Bevölkerungspolttik und Siedelung / Paul Leut- wein
Noch zu Zeiten der letzten deutschen Volkszählung 1910, die rund 65 Millionen ergab, rechneten die weitesten Kreise vertrauensvoll mit einer ununterbrochenen Weiterentwicklung unserer Volksvermehrung. Als Prof. Julius Wolfs 1912 auf die Gefahren unserer sehr merklich gewordenen Geburtenabnahme hinwies, fand er für seine Ausführung in der Öffentlichkeit nicht viel Interesse. Stand doch der Abnahme der Geburten ein entsprechender Rückgang der Sterblichkeit entgegen, der den Geburtenüberschuß vorläusig gleichbleibend erhielt. Der warnende Hinweis mancher Volkswirte, daß die Natur Wohl für die Abnahme der Sterblichkeit, nicht aber der Geburten eine Grenze setzt, blieb auf den Kreis der Fachgenossen beschränkt. Erst der Weltkrieg hat unserem Volke die Augen über die Gefahr dieser Entwicklung geöffnet.
In diesem gewaltigsten aller Kriege stehen unserem Vierbund mit rund 150 Millionen lediglich in Europa die doppelte Zahl Feinde gegenüber. Allein das russische Reich ist mit 180 Millionen nach der Schätzung von 1914 uns und unseren Verbündeten an Volkskraft überlegen. Die unheimliche Volkszunahme dieses Staates erweckt für die Zukunft die schwersten Bedenken. Aber auch die westlichen Gegner verfügen über Hilfsmittel, die uns nicht zu Gebote stehen. Hat doch Frankreich in den ersten beiden Kriegsjahren eine halbe Million farbiger Truppen auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen verwandt und will diese Zahl über eine Million steigern. Angesichts einer kolonialen Eingeborenenbevölkerung von 56 Millionen ist das nicht unmöglich. England, das über annähernd 400 Millionen Farbige gebietet, kann noch ganz andere Leistungen vollbringen. Vorsichtshalber vermeidet es, hierüber Zahlen zu veröffentlichen. Besser sind wir über die K^cegsteilnahme seiner großen Siedelungskolonien unterrichtet, worüber noch später zu sprechen sein wird.
Wie lange die russische Gefahr noch abgeschwächt wird durch die dem tiefen Kulturstande entsprechende hohe Sterblichkeit vermag niemand vorauszusehen. In den Jahren 1901—1912 einschließlich schwankte die Geburtsziffer im europäischen Rußland mit einer leicht abfallenden Tendenz zwischen 48 und 43 aufs Tausend. Die Sterblichkeit ging dagegen, wenn auch gleichfalls unter Schwankungen, so doch klarer erkennbar, von 32 auf 26 zurück. Der Geburtsüber- schuß hielt sich demnach im Durchschnitt auf 16—17. In Deutschland sank er in der gleichen Zeit von 15 auf 12,5. Um die Jahrhundertwende standen 35 Geburten 20 Sterbefälle aufs Tausend und Jahr gegenüber, 1913 27,5 Lebendgeburten 15,1 Sterbefälle. Mitte der siebziger Jahre stellte sich die Zahl der Geburten noch auf 41, die der Sterbefälle auf 28.
Es ist klar, daß diese Entwicklung in Deutschland zu einer absoluten, und raschen Verminderung des Geburtenüberschusses führen muß, falls man keine wirksamen Gegenmittel findet. Die Sterblichkeit hat ja nahezu die in einem industriellen Kulturstaat mögliche untere Grenze erreicht. Sie dauernd auf 14 herunterzudrücken erscheint aussichtslos, würde doch dies schon einer durchschnittlichen Lebenszeit von ungefähr 70 Jahren entsprechen. Wohl bemerkt auf die Dauer, denn nach einem oder einigen wenigen Jahresdurchschnitten der Sterblichkeit kann die Lebenslänge nicht berechnet werden. Um die durchschnittliche Lebenszeit der Menschen einer Zeitperiode zu berechnen, sind vielmehr soviel jährliche Sterblichkeitsquoten zusammenzuzählen, als aufs Tausend gehen, abzüglich eines besonders zu berechnenden Prozentsatzes für die jährliche Vermehrung. Doch solcher Einzelheiten bedarf es nicht, um den tiefgreifenden Unterschied zwischen russischen und deutschen Bevölkerungsverhältnissen zu erkennen. Nußland hat allein für sein 130 Millionen Einwohner zählendes europäisches Gebiet ohne Polen mit eurem ständig steigenden jährlichen Zuwachs von 2 Millionen zu rechnen, während Deutschland