Teil eines Werkes 
T. 1 (1914) Die Reise: Eindrücke und Beobachtungen / unter Mitarb. von Marie Pauline Thorbecke und Leo Waibel
Entstehung
Seite
88
Einzelbild herunterladen
 

Das Gebirge der Zwerge

Es hatte endgültig ausgeregnet. Seit Ngambe war kein Tropfen Regen mehr gefallen, dafür war die Luft von Tag zu Tag dunstiger und staubiger ge­worden. Das Ngutte-Gebirge, das Ziel unseres Marsches nach Süden, dessen kühne Formen wir so oft aus der Ferne, vom Fuß und von den Höhen der Ndomme, bewundert hatten, war von Ditam aus gar nicht zu sehen, der nahe ge­legene Jessom hob sich nur ab und an in ganz schwachen Umrissen am Ost­horizont ab. Nur ein einziges Mal haben wir an einem der nächsten Wander­tage Ngutte-Berge und Jessom gleichzeitig gesehen. Auch die Ndomme haben wir in dieser beginnenden Trockenzeit nicht zu Gesicht bekommen. Es war wie im vergangenen Februar oben in Nord-Tikar; wir konnten bei der diesigen Luft oft tagelang nicht photographieren.

In Ditam hatte uns niemand brauchbare Auskunft über die Ngutte-Berge geben können; nicht einmal über den Namen waren sich die Leute einig. An den Bergen lebt ein anderer Volksstamm, weder Tikar noch Wute; was gingen also diese Menschen sie an? Der auf den Karten gebräuchliche Name Ngutte-Gebirge stieß überall nur auf Lachen. Er war ein bloßer Notbehelf des Weißen, der dort den alten Ngutte lange vergeblich gesucht und endlich ge­fangen hatte. In Linde war der Gebirgsstock von Dukan und seinen Leuten ganz allgemein Jangba-Berge genannt worden, das Volk, das an seinen Hängen wohnt, Mendjanti oder auch nur Njanti. Njanti-Leute haben wir auch gleich auf dem ersten Marsch nach Südosten getroffen. Aber nicht allein die sitzen hier am Gebirge, es hat auch einer ganzen Reihe anderer Stämme als Rück­zugsgebiet gedient; sie alle haben sich von den verschiedensten Seiten auf die unzugänglichen Felshöhen geflüchtet, als die große Welle der Wute über das Land hereinbrach. So bildet die Völkerkarte hier auch heute noch ein buntes Mosaik, trotzdem die meisten vom Gebirge wieder in die Ebene hinab­gestiegen sind. L'gend ein System in dies bunte Völkergemisch zu bringen, ist fast unmöglich, so toll sind sie alle, die Njanti, Bati, Fuk, Balom, Jandjom im Verlauf von fünf Jahrzehnten hier in der Südwestecke des Ost-Mbamlandes durch einander gewirbelt worden; und zwischen ihnen sitzen auch heute noch in kleinen, aber streng abgeschlossenen Kolonien Wute, ihre früheren Zwing­herren. All die in sich so verschiedenen Völker und Stämme eint der gleiche, noch immer ungekülüte Haß gegen den ehemaligen Unterdrücker. Wie der Deutsche den Tikar vom Fulbejoch befreite, so ist er auch für sie der Befreier von dem vielleicht noch schwereren Joch der Wute gewesen.