394 Brasilien. Die „deutsche Gefahr". — Kirchliche Verhältnisse.
Verpflichtungen gegen den Staat stets nachgekommen. Ihre Stellung im Staate ist im Grunde genommen generell die gleiche wie die der Deutschen in den Vereinigten Staaten und in Britisch-Sttdasrika. Sie beanspruchen auch hier nicht im mindesten, einen Staat im Staate bilden zu wollen; sie können und wollen, wie es erst kürzlich in einer Parlamentsrede eines Deutschbrasilianers aufs klarste und bestimmteste zum Ausdruck gelangt ist, unbeschadet, daß sie ihre angestammte Sprache und Sitte bewahren und pflegen, ebenso gute und zuverlässige Glieder des staatlichen Körpers fein wie die Lusobrasilianer, ja, ihre Treue gegenüber ihrer nationalen Eigenart kann geradezu als eine Bürgschaft gelten ihrer Treue auch gegen den Staat, dem sie jetzt angehören. Wollte man ihnen einen Vorwurs machen, so könnte es einzig der sein, daß sie bis aus den heutigen Tag den innerpolitischen Fragen so wenig Interesse entgegenbringen, daß sie selbst an der Munizipalverwaltung nur wenig und jedenfalls nicht in dem Maße Anteil nehmen, wie es ihrer großen Volkszahl wohl entspräche. Der einzige Deutsche, der sich in hervorragender Weise an der Besprechung der politischen Tagesfragen beteiligt und als Provinzialdeputierter auch an der Gesetzgebung positiv mitgearbeitet hat, der bekannte Karl v. Koseritz, den die Deutschen Brasiliens mit Fug und Recht als ihren Führer betrachten konnten, hat sich allezeit als anhänglicher Sohn seiner selbstgewählten Heimat bewiesen, und auch die Brasilianer haben sein Wirken nur anerkennen können; freilich hat das nicht verhindert, daß gerade er von der politischen Umwälzung des Jahres 1889 in besonders empfindlicher Weise betroffen wurde: als Anhänger des Kaisertums kam er bei den Republikanern in Mißkredit und mußte sich von ihnen die kränkendste Behandlung gefallen lassen.
Was endlich soll man dazu sagen, daß die Behauptung, Deutschland plane territoriale Erwerbungen in Brasilien, noch immer nicht zum Schweigen kommt! Schwerlich verlohnt es sich der Mühe, darüber des längeren zu diskutieren. Jeder, der die politische Konstellation in Nord- und Südamerika kennt und den Sinn für politische Realitäten noch nicht verloren hat, weiß nur zu gut, daß derartiges gänzlich außerhalb des Bereichs aller Möglichkeiten liegt. Im Grunde freilich bedarf es feM dieses Hinweises nicht: denn welchen Nutzen könnte wohl ein Kolonialerwerb für das Deutsche Reich haben, der ihm außer deutschen Bauern Tausende und Abertausende von Polen und Italienern, anderer Elemente ganz zu geschweigen, zubrächte? Kurzum, nicht nur, daß er unmöglich ist, er ist nicht einmal wünschenswert.
V. Kirchliche Verhältnisse.
Man darf sich nicht wundern, daß das geistige Leben und der Bildungsstand der Kolonisten lange Zeit hindurch aus einer tiesen Stuse verharrt ist; die Einwandernden stammten, wie schon bemerkt, größtenteils aus den untersten Gesellschaftsschichten und haben einen großen Bestand intellektueller Bildung nicht mitgebracht; fchwerer aber fällt noch ins Gewicht, daß sie teilweise Jahrzehnte lang in völliger Abgeschlossenheit gelebt und weder mit der Heimat noch überhaupt mit der Außenwelt in Verbindung gestanden oder von irgendeiner anderen Stelle geistige Anregung erhalten haben. Bedenkt man außerdem, daß namentlich im Anfang vor den wirtschaftlichen Interessen notgedrungen alles andere in den Hintergrund treten mußte, so wird man begreisen, daß die kirchlichen und Schulverhältnisse sich zunächst nicht gedeihlich entwickeln konnten und vielfach noch hente einen wenig vorteilhaften Anblick gewähren.