Heft 
81 (1922) 81. Jahrgang.
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Die Grenzboten

Politik, Literatur und Kunst

8^. Jahrg., ^. Januar ^922 Nummer 2

Vaterlos oder Faschoda?

Von Fritz Aern

Frankreich in englischer Anficht

9 er britische Sieg im Weltkrieg, der, so wenig wie irgend ein Sieg, einen Ab­schluß der Weltgeschichte bedeutet, dafür aber das Gleichgewicht der Mächte auf lange hinaus ins Schwanken versetzt hat, zeigte schou bei der Friedenskonferenz! 1919 den Hauptmangel, daß in Frankreich ein zweiter Sieger aufstand, der gern der erste sein wollte. England beging den Fehler, sich nicht schon beim Friedcnschließen so gegen den festländischen Mitsiegcr zu wenden, wie seinerzeit ans dem Wiener Kongreß gegen die alliierten Prenßcn. Für einen deutschen Talleyrand war 1919 kein Platz, selbst wenn Deutschland in diesem Jahr nicht staatlich einem um­gestülpten Handschuh geglichen und sein damaliger Beherrscher Erzberger mit Tcilleyranb nur das Einzige gemein gehabt hätte, daß er in jedem Regime oben schwamm. Es darf heute deu Phantasten oder Geschäftspolitikern, die damals Deutschland vertraten, bescheinigt werden, daß alle ihre Irrtümer uud Unter­lassungen nicht heranreichen au Englands Irrtum, den gefährlichen, starken Deutschen in völlige Ungefährlichkeit uud Schwäche zu stoßen, und an Englands Unterlassung, die rasende Volksleidenschaft gegen Deutschland, die seit Beginn der Ententepolitik aufgeregt worden war, nicht rechtzeitig abzublasen. Der Mann ans der Straße, der ungebildete Zeitungsleser nnd Wähler tyrannisierte damals seinen Lenker Lloyd George. Die britischen Khakiwahlen nach dem Krieg haben einem Frankreich zur Herrschaft verholfen, das jetzt mit der Vereinigung von Größenwahn uud Verfolgungswahn, die uns die Ärzte als häufige Krankheits- verbindung zeigen, ich zitiere Poincare, entweder auf ein neues Waterloo oder ein neneS Faschoda zutreibt.

Sieht man die Welt von London aus au, so hat sich zwar das Weltreich iu allen fernen Zonen gerundet, aber mit dem neuen Heer und den nationalisti­schen Schulen des Freistaates Irland uud mit dem durch kciu deutsches Militär niehr gebundenen Kriegsapparat Frankreichs hat die weltbeherrschende Insel nun zwei Mächte uumittelbar vor der eigenen Tür, die lästiger sind, als die desensive deutsche Flotte je war. Es scheint wohl wahr, daß das britische Reich keine euro­päische Macht mehr sein will. Aber was nützt eine weltüberschattende Krone, wenn der Stamm des Baumriesen ganz nah der Wurzel zwischen Sägen liegt.

Der Friedeu mit Irland ist von der disziplinierten Londoner Presse als große Tat der Weisheil gepriesen worden. In Wirklichkeit aber weiß England

Grenzbowl I 1922