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Weihnachtsbetrachtungen eines deutschen Demokraten : aus einem Geheimtagebuch
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Iveihncichtsdetrachtungen eines deutschen Demokraten

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Weihnachtsbetrachtungen eines deutschen Demokraten

Ans meinem Geheimtagebuch

Weihnachten 1913. Es ist nicht zu leugnen, daß sich das seit 1850 ohne und gegen unsere Partei regierte Preußisch-Deutsche Reich in einem unglaublichen Auf­stieg an Wohlstand, Bevölkerungszahl und Weltmöglichkeiten befindet. Aber der Zall Zabern, anläßlich dessen ich von vielen englischen und amerikanischen Freunden warme Zustimmungsschreiben zu unserer Entrüstungsrede im Reichstag erhalten habe, zeigt doch, wie sehr sich dieser Junkerstaat mit seiner Verachtung demokratischer Grundsätze die einstimmige Verurteilung aller Demokraten in der ganzen Welt zu­gezogen hat. Ich konnte meinem Freund C. W. P. Davis auf seine Behauptung, die deutsche Militärkaste bereite einen Krieg vor, glücklicherweise erwidern, die deutsche Demokratie wüßte den deutschen Militarismus genügend zu fesseln. Haben wir doch im vorigen Jahr durch den Finanzgrundsatzkeine Ausgabe ohne Deckung" die übermäßige Verstärkung des deutschen Heeres zu Fall gebracht. Allerdings haben die Franzosen stärker gerüstet als wir, und mein konservativer Landsmann und Reichstagskollege A- behauptet, gerade unsere Abstriche an den Armeeforderungen erhöhten nur die Kriegsgefahr. Ich bin aber überzeugt, daß die durch die Ein­schränkung unserer Rüstungen tatkräftig bekundete Friedensliebe des deutschen Volkes mit Hilfe unserer demokratischen Freunde.in Frankreich und England die allgemeine Entspannung fördern wird, und ich sehe in Bethmann Hollwegs Verständigung mit England ein diplomatisches Meisterstück und die eigentliche Lösung unserer Zchwicrigkeiten. Die zweite weltgeschichtliche Tat Bethmann Hollwcgs soll dann sein, daß er in das starre und schroffe Junkerregiment, das neben der äußeren Wohl­fahrt uns so viel Verärgerung gebracht hat, einen frischen Luftzug, neue Männer und neue Ideen hereinbringt. Freilich im stillsten frage ich mich: Welche Männer und welche Ideen haben wir Epigonen der achtundvicrziger Freihcitsmänncr heute noch anzubieten, die wirklich einen in sich blühenden Staat noch weiter fördern?

Weihnachten 1914. Ein furchtbares Geheimnis, das man nicht laut sagen darf: Der Abstrich vom März 1912 hat uns die drei entscheidenden Armeekorps an der Marne fehlen lassen. Aber auf militärische Siege kommt es ja gar nicht an. Ein Volk von achtzig Millionen, das so einig ist wie das unserigc, ist nicht zu besiegen, und der demokratische Gedanke wird sich mit der Länge des Krieges in allen Ländern, auch bei den Meuchelmördern von Belgrad und ihren Helfeshelfcrn an der Themse, Seine und Newa, durchsetzen und auf den Trümmern des alten Europa die wahre Völkerverständigung herbeiführen. Die Aufgabe von uns deutschen Demokraten ist es, zunächst einmal bei uns zu Haus der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen. Kollege U- behauptet allerdings, bestimmt zu wissen, daß das Kricgs- ziel Belgien kein alter Plan unserer Annexionisten wäre, und daß es insofern gar keine Rolle spielte, als die feindlichen Regierungen doch bis zur Vernichtung des Deutschen Reiches kämpfen wollten. Ich fetze dagegen meine Hoffnung auf die liberale Regierung in England und auf Bethmann Hollweg. Ich verstehe nicht, wie mir Noske neulich sagen konnte, er mißbillige, daß Bethmann Hollweg die Flotte zmmckhaltc. Ein deutscher Seesieg über England würde ja den Frieden nur hinaus­schieben, ja unmöglich machen. Wir dürfen England nicht weiter reizen. Aller­dings muß ich zugeben, daß Tirpitz' Flottenbau die Verständigung mit England bis zum Juli 1914 nicht gestört hat, wie wir damals glaubten. Haben doch die Engländer, die 1905 und 1911, als wir noch keine starke Flotte besaßen, zum Kriege drängten und nur durch das furchtsame Frankreich gebremst worden sind, im Juli 1914'angesichts unserer inzwischen so stark gewordenen Flotte die Verständigung mit uns gewünscht und die Weltherrschaft in Vordcrasien und Afrika mit uns teilen wollen. Die furchtbaren diplomatischen Fehler unseres Auswärtigen Amtes haben aber dann den Engländern eine so verlockende Gelegenheit zum Losschlagen geboten, daß die Kriegspartei in England zum überwiegen kam. Jetzt aber müssen wir die verständigungsbereiten englischen Politiker moralisch stützen, uud deshalb ist es Zeit,