Bausteine der chinesischen Kultur
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Ceylon und Hinterindien beschränkt ist, verhältnismäßig rein und unentstellt erhalten hat, stellt der über Tibet, die Mongolei, China, Korea und Japan verbreitete nördliche Buddhismus das Ergebnis eines religionsgeschichtlichen ^ Entwicklungsprozesses dar, durch den die Lehre Buddhas eine völlig neue Gestalt angenommen hat. Während im älteren Buddhismus nur derjenige hoffen durfte, von den Wiedergeburten besreit ins Nirvana einzugehen, der sich der Ordensregel unterwarf, d. h. der Mönch, verkündet der nördliche Buddhismus die neue Lehre von einem Paradiese, das von einem besonderen Buddha, namens Amitclbha, beherrscht wird und auch den Laien zugänglich ist, sofern sie sich durch einen tugendhaften Lebenswandel hervortun. Begreiflicherweise hat das neue Evangelium denn auch sehr rasch eine große Popularität erlangt und den Glauben an den historischen Buddha und dessen Lehre vom NirvÄna fast gänzlich verdrängt. Diese Tatsache ist insofern lehrreich, als sie mit hinlänglicher Deutlichkeit das Mittel erkennen läßt, dem der Buddhismus in allererster Linie seine erstaunlich rapide Ausbreitung verdankt: es ist die Politik der Zugeständnisse, die er überall und immer befolgt. Wo immer er mit fremden Religionen und Kultusformen in Berührung kam, hat er sie nicht etwa mit Feuer und Schwert ausgerottet, sondern einfach feinem System einverleibt, wobei er sich ihnen auch seinerseits nach Möglichkeit anzupassen suchte. So ist aus der ursprünglich atheistischen Lehre Buddhas schließlich der götterreichste Polytheismus der Welt hervorgegangen.
In China stieß die buddhistische Propaganda auf besonders große Schwierigkeiten, da ihr hier das seste Bollwerk der konfuzianischen Kultur gegenüberstand; und wenn es dem Buddhismus trotzdem geglückt ist, hier Wurzel zu fassen, so verdankt er diesen Erfolg gleichfalls seiner Anpassungsfähigkeit und der schlauen Taktik, die Schwäche des Gegners geschickt auszunutzen.
Was der einheimisch chinesischen Naturreligion seit jeher gefehlt hatte, war die Anschaulichkeit. Nichts war daher geeigneter, diesem Mangel abzuhelfen, als der Buddhismus mit seinem unerschöpflichen Legendenschatz, mit seiner reichen Mythologie und mit der unmittelbar auf die Sinne wirkenden Pracht seines Tempel- und Bilderkults. Vor allem aber mußte ihm darum zu tun sein, sich des Ahnenkultes zu bemächtigen. Gelang ihm das, so hatte er gewonnenes Spiel. Und es ist ihm in der Tat gelungen.
Auch der Ahnenverehrung fehlte es ja nicht minder als der Naturreligion an Anschaulichkeit und positivem Glaubensinhalt. Man ahnte wohl, daß die abgeschiedenen Seelen irgendwo fortlebten; aber über das Wie und Wo wußte niemand eine Auskunft zu geben. Hier nun sprang der Buddhismus in die Bresche, indem er einerseits durch seine Theorie von der Seelenwanderung und den Wiedergeburten, anderseits durch seine Lehre vom Paradiese und der Hölle die vorhandene Lücke ausfüllte und dem bis dahin vagen Glauben einen konkreten Inhalt gab. Jetzt erhielt der Ahnenkult eine wichtige Erweiterung durch die buddhistische Totenmesse, die den ausgesprochenen Zweck hat, die abgeschiedene Seele aus den Banden der Hölle zu befreien und geradeswegs ins Paradies
Grenzboten II l 1911 21