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Wie sich die Grientpolitik dem Laienauge darstellt
englischem Boden gewachsen, und haben nicht unzählige Sovereigns ihren Weg in die Kassen der Ethnike Hetairia gefunden? Also „Kreta für die Griechen, die Sudabai für uns!" ist ein in eingeweihten englischen Kreisen durchaus verständliches und in dem Bereiche der praktischen Politik liegendes Stichwort.
Wer will England daran hindern? Frankreich müßte den Entscheiduugs- krieg wagen, aber es fletscht wohl die Zähne nach Ägypten und Kreta hin, die Augen hält es dagegen wie gebannt auf die blauen Vogesen gerichtet, hinter denen der deutsche Rhein ruhig dahinfließt. In einer solchen verzwickten Stellung aber führt man keinen Krieg mit einer ebenbürtigen Macht. Und der Schluß wird sein: ist England einmal auf Kreta, so bleibt es dort, wie es in Ägypten bleibt. Und das ist der geschickte Zug seiner großartig angelegten Diplomatie: Es kann auch zu diesem Ziele kommen, wenn Griechenland nicht Beherrscherin und Verschenken« der kretischen Insel werden sollte. Wollen die „Mächte" durchaus nicht einsehen, daß man des Griechenkönigs Thron stützen, die wackern Hellenen, die ja nur, wie einst Italien und Deutschland, um ihre Stammcseinheit kämpfen, beschirmen, die gräßlichen Türken mit Feuer und Schwert ausrotten muß (was natürlich andre zu besorgen hätten), so ist es, denken die Engländer, zunächst auch gut! Wir besetzen Kreta mit den übrigen Mächten zusammen; denn antonom muß es werden, das steht außer Frage.
Geläuge dieser geschickt vorbereitete und durchgeführte Zug, so würde er einen glänzender Sieg der englischen Diplomatie bedeuten. Kreta darf nicht „autonom" werden, wenn man England hindern will, auch nur den kleinen Finger auf Kreta zu legen. Denn wenn es autonom ist, muß man doch diese Autonomie auch schützen. Zunächst gewinnt man so Zeit zu den schönsten Machenschaften. Außerdem sind ja schon sechshundert Mann dort; von Malta aus lasseu sie sich unbemerkt und leicht auf einige Tausend bringen. Die ganze maltesische Flotte kann in der kürzesten Zeit zur Stelle sein. Jeden Schlupfwinkel, jedes Leuchtfeuer der Küste kennt sie, jeden Ort, der sich zur Befestigung eignet, denn man hat seine „Besuche" auch auf nützliche Arbeit verwendet. Was hindert also England, zu gelegner Zeit einen Gewaltstreich auszuführen und die Sudabai zu besetzen?
Man wird dem entgegenhalten, daß ja auch russische, italienische, französische, österreichische und deutsche Soldaten dort seien, das ganze europäische Konzert. Freilich, aber auf wie lange? Sind doch sogar die Franzosen aus Ägypten hinausmanövrirt worden! Die Deutschen werden sehr bald wieder abziehen; sie machen nur mit, um Rußland zu stützen. Osterreich wird auch zu erweichen sein: wer ihm Salonichi „garcmtirt," dürfte ihm willkommen sein, und mit andern Danaergeschenken, die Osterreich und Nußland gegeneinander mißtrauisch machen und hübsch auseinanderhalten wttrdeu, würde England gewiß nicht sparen. Italien? Wäre nur nicht die Feindschaft mit Frankreich über Tunis, wären nicht die englischen Dienste in Äthiopien traurigen