Äiels Lyhne.
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Und dort blieben sie denn, aber es war vergebens, daß der Winter sich mild anließ und sie mit seinem eisigen Hauche verschonte; gegen die Krankheit, die in ihrem Blute lag, konnte er sie nicht schützen. Und der Lenz, der ans seinem Triumphzuge durch das Thal kam mit dem Wunder des Sprossens und der frohen Botschaft des Werdens, er mußte sie Welten sehen inmitten des sich verjüngenden Lebens, ohne daß seine Kraft, die ihr aus Licht und Luft, aus Erde und Feuchtigkeit entgegenquoll, in sie überströmte. Der letzte Traum, der ihr in der Heimat gleich einer neuen Morgenröte vorgeschwebt hatte, der Traum vou der Herrlichkeit der fernen Welt, ihm hatte der Tag keine Erfüllung geschenkt, seine Farben waren matter geworden, je näher sie ihnen gekommen war; denn sie hatte sich nach Farbe» gesehnt, die das Leben nicht besitzt, nach einer Schönheit, die die Erde nicht zeitigen kann. Aber die Sehnsucht erlosch nicht, still und stark brannte sie in ihrem Herzen, glühender durch das Entbehren, heiß 'und verzehrend.
Jeder Tag. der kam, brachte neue Blumen, er entlockte sie in buntem Gemisch den Gärten am See, er belastete mit ihnen die Zweige der Bäume, er schmückte die Paulownien mit riesenhaften Veilchen und die Magnolien mit großen, purpurgefleckten Tulpe». An den Wegen entlang zogen sich die Blumen in blauen und weißen Reihe», sie füllten die Felder mit gelben .Haufen, und nirgends waren sie so blütendicht wie da oben zwischen den Höhen in geschützten, heimlichen Thälern und Spalten, wo die Tanne mit ihren roten Zapfen zwischen dem hellen Laube stand, denn dort blühten die weißen Narzissen in blendender Masse und erfüllten die Luft rings umher mit betäubendem Duft, wahre» Orgien von Duft.
Aber inmitten all dieser Schönheit saß sie mit unerwiederter Schönheitssehnsucht im Herzen, und nur hin und wieder in einsamer Abendstunde, wenn die Sonne hinter den sanft abfallenden Höhen Savoyens sank, und die Berge jenseits des Sees wie bräunlich undurchsichtiges Glas schimmerten, wenn sich das Licht gleichsam in ihre steilen Felswände eingesogen hatte — nur dann konnte die Natur ihre Sinne fesseln, denn dann war es, als ob gelbbelenchtete Abendnebel das ferne Juragebirge verhüllten, und der See, der rot wie ein Kupferspiegel dalag mit golduen, in Sonneuglut getauchten Flammen, schien mit dein Himmclsscheine zu einem einzigen, großen, leuchtenden Meere der Unendlichkeit zu verschwimmen — dann verstummte wohl auf eine Weile das Sehnen, und die Seele hatte das Land gefunden, das sie suchte.
Je mehr das Frühjahr vvrschritt, desto schwächer wurde Frau Lyhne, und bald verließ sie das Bett nicht mehr; aber jetzt fürchtete sie sich nicht mehr vor dem Tode, sie sehnte sich nach ihm, denn sie hegte die Hoffnung, jenseits des Grabes diese Herrlichkeit von Angesicht zu Angesicht zu sehen, Seele in Seele zn sein mit jener Schönheitsfülle, die sie hier auf Erden mit einem ahnungsvollen Sehnen erfüllt hatte, das jetzt durch das während der langen Lcidensjahre stets wachsende Ent- Grcnzboten II. 1888. 75