Die Unpopularität der Jurisprudenz. 357
macht, welchem Zweck es diente, als es entstand. Das Richteramt lag damals in der Hand unwissender und arbeitsscheuer Gewalthaber, die nach Willkür verfuhren und gegen das Studium des schwierigen justinianischen Rechtsbuches einen Abscheu hegten, für den sie auch wohl noch heutzutage in weitern Kreisen volles Verständnis finden würden. Ohne Geistes-, ja ohne Überzeugungszwang war damals aus der Barbarei überhaupt nicht herauszukommen. Geistige Freiheit ohne geistigen Reichtum wird den Völkern zum Fluche, nicht zum Segen. Es mußte also eine Zwangsmaschine erfunden werden, die den Nichter nötigte, seine Willkür aufzugeben, die Parteien anzuhören, alle wichtigen Punkte zu überlegen, die Beweise ordentlich zu erheben und zu beachten, vor allem aber alles, was geschah, fein säuberlich aufzuzeichnen, damit, wenn etwas vom untern Richter verfehlt war, der höhere Richter den Mangel dick unterstreichen und unter Umständen sogar mit kirchlichen Bußen rügen konnte. Dieser Kontrolapparat ist der päpstliche Prozeß, durch welchen die rot-g, Romg.ua, der höchste Gerichtshof des Papstes, welchem selbst Luther seine unumschränkte Anerkennung zollt, die ganze Welt aus der tiefsten Barbarei zur Gründlichkeit langsam und mühsam erzogen hat. Es war damals kaum denkbar, sie auf andre Weise heranzubilden. Um aber die Rechtspflege in jeder Hinsicht am Gängelbande zu haben, ihre Willkür gänzlich unmöglich zu machen, stellte man das Gebot auf: „Der Nichter darf nicht nach seiner oonsvientig., d. h. Überzeugung, richten, sondern nur nach festen Beweisregeln." Am besten veranschaulicht dies dasjenige Beispiel, welches Luthers besondern Zorn erregte. Wer zwei Zeugen wieder sich hatte, der mußte verurteilt werden, auch wenn sie nach der Überzeugung des Nichters bestochen waren, denn man vertraute dem Ermessen des Nichters ein Urteil über die Glaubwürdigkeit der Zeugen nicht an. Man hielt es für besser, daß hundert Rechtsgenosfen aus formellen Gründen nicht zu ihrem Rechte kamen, als daß Tausende der richterlichen Willkür preisgegeben wurden. Dadurch aber war der Rabulisterei Thür und Thor geöffnet. Der Prozeß war nun wieder ein reines Gottesgericht geworden; nicht die Wahrheit entschied, sondern die Überlegenheit der Streiter, nur kämpfte man jetzt nicht mehr mit scharfen Waffen, sondern mit spitzen Zungen. Daß dieses Verfahren dem schlichten Sinne des deutschen Mannes nicht angenehm sein konnte, liegt auf der Hand. Jener Hauptgrundsatz des päpstlichen Prozesses — die sogenannte formelle Beweistheorie —, der den Nichter an feste Beweisregeln bindet und zwingt, unter Umständen wider seine Überzeugung zu urteilen, ist es, über den Luther bemerkt: „Die Rechte sind darum von Gott nicht gegeben, daß man aus Unrecht sollte Recht machen, und aus Recht Unrecht machen, wie die unchristlichen Juristen thun."
Wir fragen uns nun, warum nicht auch hier die strenge Wahrheitsliebe Luthers den Sieg erfochten und das kunstvolle päpstliche Recht, wenigstens in den protestantischen Ländern, beseitigt hat. Nichts wäre leichter gewesen, als eine schlichte natürliche Prozeßordnung herzustellen. Es ist dies auch wieder-