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Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.
liefert werden. Wer wollte leugnen, daß die gewissenhafte und sorgfältige Durchforschung aufbewahrter nnd verborgen gehaltener Schriftstücke manche ncne Thatsache zu Tage gefördert, manche falsche Ansicht berichtigt, manche unrichtige Überlieferung ins rechte Licht gesetzt hat? Aber diese Vorteile werden ausgewogen durch die massenhafte Stoffhäufung, durch die Menge imwichtiger, für den Gang und die Resultate der Geschichte bedeutungsloser Aufzeichnungen, durch geringfügiges Detailwcrk. Es ist eiu löbliches und verdienstvolles Bestreben, weun historische Lokal- und Provinzialvereine die geschichtlichen Materialien eines landschaftlich abgegrenzten Stammcsgebietes sammeln und ordnen, aber es darf nicht an die Stelle der höheru Aufgabe treten. Haben wir es trotz alles Forschungseifers und Sammelfleißes bis jetzt zu einer deutschen Geschichte gebracht, welche den Nationalwerken der Engländer und Franzosen ebenbürtig zur Seite stehen könnte? Einzelne Perioden sind trefflich nnd mustcrgiltig bearbeitet, manche Seite der innern Geschichte ist wissenschaftlich nnd künstlerisch mit Eleganz und Genialität behandelt wordeil, aber eine allgemeine deutsche Geschichte, welche gediegnes Wissen mit klarer, gemeinverständlicher Haltung und edler Form und Sprache verbände, wird man vergebens suchen. Und je mehr die Menge des Stoffes, die partitularistischeu Einzclarbeitcn sich häufen, desto schwerer wird sich ein künstlerisch-wissenschaftlicher Genius entschließen, aus der unübersehbaren Masse ein harmonisches Gesamtbild zu schaffen. Der Überfluß des Materials wirkt ebenso abschreckend wie der Mangel. Nicht was ohne dauernden Erfolg im Strome der Zeiten zerronnen ist oder auf den geschichtlichen Verlauf der Dinge keinen wesentlichen Einfluß geübt hat, verdient der Nachwelt erhalten zn werden, sondern was gestaltend und reformireud auf den geschichtlichen Lebeusgaug eingewirkt hat, nicht die Pläne und Absichten, die hie uud da einmal anftanchten, aber nicht ins Leben traten, können zur Aufhellung verwickelter Zeitfragcn und Zeitereignisse besondre Dienste leisten, sondern die Lösung und klare Darlegung der verschlungnen Fäden und Motive, welche die Handlungen und Begebenheiten herbeiführten. Wie interessant und bedeutungsvoll für die Biographie und Memoirenliteratur alles sein mag, was der Einzelne in verschiednen Momenten in seiner Seele getragen, erwogen und durchdacht hat, für die echte Geschichte hat nur die Wirklichkeit, das Vollbrachte Wert, auch nur dann, wenn aus dem Detail der Umstände und des Nebensächlichem der für die Menschheit oder für eine Nation bedeutsame Kern ausgeschält wird. Diese Ansicht liegt auch den Worten Fr. Rückerts zu Grunde, des Dichters, dem es wie keinem andern gelang, trockne didaktische Stoffe in glatte Verse zn kleiden, wenn er sagt:
Wie die Welt läuft immer weiter, Wird stets die Geschichte breiter, Und uns wird je mehr, je länger Nötig ein Zusmmneudränger.