Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung, 255
Über Grab und Verhängnis nvch die Seele reinigt und erhebt; vielmehr stellt sie eine Welt dar voll Laster und Häßlichkeiten, in welcher dämonische Natnren im Thun und Wagen die Grenzen der Menschheit, die Schranken der Gesellschaft kühn überschreiten. Die darstellende Kunst des Sallust gleicht der modernen Romantik, die ohne Scheu und Rücksicht alles, was die Natur im Leben her- vorbingt oder zuläßt, auf ihren Tafeln zeigt, das Häßliche wie das Schöne, das Erhabne wie das Niedrige,
Die Zeitgemälde des Sallnstius sind geniale Schöpfnngeu eines Welt- und menschenknndigeu Mannes, der mit instinktiver Spürkraft in die Tiefen und Regungen der Menschenseele eindringt und anch den Jrrgängcn des Herzens nicht fernsteht. Eineu ganz verschiedneu Eindruck macht die römische Geschichte des Livins. Aus der Prvvinzstadt Patavium nach der Weltmetropole Rom übergesiedelt, vielleicht in die Nähe des Augusteischen Kniserhofes gezogen, hat er die Größe und Herrlichkeit, die ihn umgab, mit lindlich harmlosem Gemüte in sich aufgenommen und auf sich einwirken lassen. Wie die Pariser an den künstlerischen Erzeugnisfeu der Prvviuzialeu leicht herausfühlen, daß sie nicht den Dnft nnd die Eleganz der hauptstädtischen Atmosphäre, nicht den feineu Geschmack der ästhetischen Gesellschaft atmen, so scheint auch die „Patavinität," die das vornehme Rom au dem Historiker rügte, auf eine» solchen Mangel aristokratischer Urbanität hinzudeuten. Über der Liviamschen Geschichte liegt ein Hanch naiver Einfalt und Ursprünglichkeit, der nvch nicht „von des Gedaukens Blässe augekräukelt," noch nicht durch die Reflexion nnd die Macht der Nachahmung vcrwischt ist, Anch Livins ist ein Künstler; aber man merkt an seinen Produktionen das Studium, die Überlegung, die mühsame Ausführung. Das große Geschichtswerk läßt uns eineu Autor erkennen, der mit hingebender Liebe bei dem Heldenmut und Heldeusinn der Ahnen verweilt, durch dessen Seele eine vaterländische Begeisterung zieht, welche mit gläubigem Herzen den Legenden und Überlieferungen aus der Vergangenheit lauscht und sie treuherzig nacherzählt: aber von den nvtmendigen Eigenschaften eines Historikers, Kritik, Staats- nnd Menschenkenntnis, pragmatisches Urteil, wird man wenig gewahr, und die rhetorische Ausmalung einzelner Szenen nnd Situationen ist oft frostige Nachahmung fremder Lehren und Beispiele. Livius besitzt Siuu für Pvesie und Sage, Gewandtheit im Charakterzeichnen nud ein wohlwollendes, freundliches, liebenswürdiges Gemüt, er hat ein offnes Herz für Menschengröße und Meuschenschicksal, er zeigt für alles Sittliche in menschlichen Beweggründen und Handlungen eine Sympathie, welche den wohlthuendsten Eindruck macht, dagegen ist ihm der staatsmännische Gesichtspunkt eines Thulhdioes und Poly- bius ganz fremd; ein Mann der Schule und des Studiums, nicht des Lebens, hat er für das Staats- und Verfassungswesen, für die Entwicklung nnd Gestaltung sozialer Verhältnisse und Standesvorrechte wenig Sinn und Interesse und nur oberflächliche nnd unklare Kenntnisse davon. Aber obwohl sein Werk weder