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Die Sozialdemokratie wirbt ihre Anhängerschaft unter der großen Schaar der Unzufriedenen. Unter diesen sind die Gründe des Mißvergnügens ebenso verschieden wie der Grad der Erbitterung und die Wünsche partieller Abhilfe. Wirksamer noch als eine Abwehr oder Einmengung dieses großen Haufens wäre eine Spaltung desselben in einzelne Gruppen. Vielleicht ist dies System der Bekämpfung sogar das einzige, das die brutalen Ausschreitungen einer numerisch anwachsenden und später einmal übermächtigen Vereinigung revolutionärer Elemente zu hindern vermag.
Unser heutiges Wahlsystem, das auf dem Prinzip der Majorität fnßt und iu dem eine einzige Stimme ausschlaggebend sein kann, gewährt den sozialistischen Führern den denkbar günstigsten Tnmmelplcitz fiir wühlerische Umtriebe. Der Wahlakt ist für sie der Tag der großen Heerschnn über die Schaaren derer, welche Neid, Mißgunst und Unverstand ins sozialistische Lager getrieben haben. Die unbehaglichen Wirren unsrer Epoche auf wirtschaftlichem und kirchlichem Gebiete mehren die Zahl dieser Mißvergnügten. Die sozialistischeil Mandate und die dafür abgegebenen Stimmen sind mithin kein vollkommen richtiger Maßstab für das politische Kredo der Wähler, aber sie beweisen, daß die Unzufriedenheit der unteren Volksschichten im Dienste der Sozialdemokratie ausgenntzt wird. Fiir die Abwehr der Gefahren, welche dem Staatswesen aus diesen Reihen drohen, ist eine solche Unterscheidung der revolutionären Elemente nicht gleichgiltig. Die Unzufriedenheit als solche können wir so wenig aus der Welt schaffen wie die Armut.
Sicher gereicht unserm Zeitalter die Ausbreitung des Unterrichtswcsens zur Ehre. Man erwarte aber nicht von einer Zunahme der Volksbildung auch zugleich die Zunahme politischer Einsicht. Wenn man dem niedern Arbeiter die höchsten Sitze der Gesellschaft als erreichbar darstellt, ihm sogar eine Anwartschaft darauf gewährt, fo ist das Gefühl der Unfähigkeit, zu der ihn das tägliche Ringen um die einfachsten Existenzmittel nun einmal verurteilt, nur umso drückender. Verbittert, enttäuscht und entrüstet über die Ungleichheit der Güter- verteiluug und über den beständigen Widerspruch zwischen der Theorie und der Thatsache, fragt er sich, warum er von so vielen minderwertigen Konkurrenten überflügelt wird, wenn doch die Gleichheit als erstes Staatsprinzip aufgestellt ist, warum er unfrei uud abhängig bleibt, trotz der proklamirten Freiheit, warum endlich ihm die Rolle des Enterbten zugewiesen ist in einem Staatswesen, das durch die Erteilung gleichen Stimmrechtes die politische Gleichheit aller Bürger proklamirt hat.
In den Städten namentlich, wo Üppigkeit und Armut nahe beieinander wohnen, ist der Gegensatz zwischen jener Nechtstheorie und dem Lebensrealismus am greifbarsten. Von den großen Städten wird daher neben der Anregung zu Kulturfortschritten auch immer die Anregung znm Klassenkampf ausgehen. Ein Proletariat wird es immer geben, solange die Welt aus Klugen