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nahmen nnter seinen eigenen Landeskindern waren das einzige Material, über das er zunächst verfügen konnte. Um aus der rohen Masse des Volkes die zahlreich vorhandenen edleren Elemente an's Licht zu ziehen und zum Dienst für den Staat heranzulocken, ergriff der geniale Herrscher eiu ebenso originelles wie wirksames Mittel, welches auf eine der mächtigsten Triebfedern menschlicher Handlungen, die Selbstsucht, oder wenn man es lieber Hort, den Ehrgeiz, basirt war. Dies war der Entwurf des „Tschin", einer allgemeinen, alle Stände des Reiches umfassenden Rangliste, die von dem Gesichtspunkte aus entworfen ist, daß überall die Vertreter der staatlichen Idee, die Beamten, soweit ihnen die höhere Karriere offen steht — und dieser Spielraum war viel weiter gegriffen, als in ähnlichen Staatskalendern der westlichen Staaten — vor dem bedentendsten und reichsten Privatmann rangirten. Dieser „Tschin" aber enthielt zugleich Zwangsmaßregeln für gewisse Stände; sie gingen ihrer privaten Vorrechte zum Theil verlustig, weun sie nicht einen Theil ihrer Lebenszeit dem Staatsdienste widmeten. Eine harte, aber entschieden segensreiche Maßregel. Unerklärlicher Weise beging Peter I. hierbei den einen schweren Nechtsirrthum, demjenigen Stande seines Reiches, der schon damals, wie heute noch, ganz zweifellos die größte Summe von Intelligenz, Thatkraft und Reichthum reprä- seutirte, eine verhältnißmäßig viel zu niedrig gegriffene Stnfe einzuräumen. Dies war der russische Kaufmannsstand, der schon zu jener Zeit an der Londoner wie Holländer Börse eine Weltstellung einnahm. Hierdurch ist dieser ganze mächtige und einflußreiche Stand in die Opposition gedrängt worden, die er denn im Bündniß mit der orthodoxen Geistlichkeit znm Theil noch heute eifrig lultivirt. Indessen scheint auch hier die jüngere Generation, soweit sie nicht dem Krebsschaden der modernen Gesellschaft Rußland's, dem Nihilismus, oder anderem, noch tollerem SeKirerwesen anheimfällt, Wege einzuschlagen, auf denen sie besser zu des Vaterlandes Heil mitwirke» kaun, als in dem passiven Widerstand der alte» Geschlechter. Eine dunkle Seite dieses „Schematismus", wie der Oesterreicher iu seinem schnurrigen Dentsch mit unbewußter Ironie den „Tschin" nennen würde, theilt er mit allen ähnlichen Einrichtungen, wenn nicht der geniale Blick eines großen Staatsmannes — sei er im Purpur geboren oder nicht — ihm Leben einhaucht. Das ist der Umstand, daß die mit einer robnsten Gesundheit versehene Mittelmäßigkeit die größte Aussicht hat, schließlich die höchsten Stellen im Staatsdienste für sich zn monopolisiren. Es liegt eine bittere Wahrheit in der Anekdote eines jungen Russen von guter Familie, welcher erzählte: „Mein Onkel hatte neulich einen Schlaganfall, da wurde er gleich zum Senator ernannt; nun ist er fast erblindet, da ist er sofort in den Neichsrath berufen worden; wenn er nun noch eine neue Krankheit erlebt, wird er sicherlich Minister!" Indessen wäre es ungereimt, anzunehmen, daß diese