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Was nun schließlich den Krieg Rußlands mit den aufständischen Kvlanzeu betrifft, so war ersterem anfangs, — wie uns bekannt — eine defensive Rolle zugewiesen: sein Gebiet, seine Unterthanen mußte es gegen die Einfälle der Aufständische» vertheidigen. Das spätere offensive Vorgehen war anch ein gezwungenes: die anarchischen Zustände im Chanat durften nicht einen Umfang erreichen, welcher die höchste Gefahr für den eigenen Besitz in sich bergen konnte. Nassr-Eddin hatte nicht die Macht, den Ausstand zu unterdrücke»; — Pulat-bek, Abdurachman-Awtobatschi waren erklärte Feinde der Rnssen. Sollte, konnte man diesen die Zügel der Regierung iu die Häude geben? Unmöglich. Was blieb also anders übrig, als das Chanat in eigene Verwaltnng zn nehmen. Es war das die einzige Garantie sür die Sicherheit des eigenen Besitzthums.
Es ist ja auch noch sehr zu bezweifeln, ob Rußland ans der Einverlei- bnng Kokaus wirkliche materielle Vortheile erwachsen werden; — und es fragt sich, ob die Oberherrschaft, die es ja thatsächlich über deu vertriebenen Chu- dojar-Chan, seit der Begründung des General-Gouvernements, ausübte, mindestens nicht weniger kostspielig war, als der jetzt eingetretene eigene Besitz des Chcmats. Haben die Russen aber in Mittelasien ein Land einmal mit den Waffen in der Hand betreten, so können sie nicht wieder davon Abstand nehmen, ohne an ihrem moralischen Einflüsse selbst ihren eigenen asiatischen Unterthanen gegenüber Einbuße zu erleiden.
Daß also das Vorgehen Rußlands in Asien doch nicht bloß mit dem Satze: «I'g.xvLt,it, visnt. en ilmnZsant» — wie es wohl häufig geschieht — begründet werden kann, dürfte wohl aus jenen Deductionen hervorgehen. Rußland ist mehr getrieben worden, als selbst treibend gewesen. An irgend einem beliebigen Punkte Halt zu machen — wie es so oft besonders die englische Presse verlangt hat — lag thatsächlich nicht in seiner Macht.
Daß Rußland andererseits aber an der Besitzergreifung jener Gebiete nicht auch ein sehr großes Interesse gehabt, daß es jene dort bestehenden Verhältnisse nicht auch zu seinem Nutzen ausgekauft habe — das zu behaupten kann mir natürlich nicht in den Sinn kommen. Es wäre weit über das Ziel hinausgeschossen. Im Gegentheil, Rußland hat in der That ein großes Interesse daran, in Mittelasien festen Fuß zu fassen, — und das liegt in seiner Handelspolitik begründet.
Rußland ist — das wird selbst von rnssischer Seite zugegeben — als Kultnrstaat hinter den andern Großstaaten Europas zurückgeblieben. Es hat trotz seiner enormen Anstrengungen, die es von Peter dem Großen an bis auf den heutigen Tag gemacht hat, den Standpunkt jener noch nicht erreichen können. Sein rastloses Vorwärtsstreben aber auf allen Gebieten des Staats-