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in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts und gehört lediglich dem Schwei- zerkanton Aargau an. Aus den Urkunden der Familiengeschichte der schweizerischen Geßler geht hervor, daß kein einziger derselben die Rolle, welche die Sagen von Tell ihnen zuweisen, gespielt, kein einziger einen Tell zum Gegner gehabt hat, kein einziger von einem Tell oder einem ähnlichen Schützen ge- tödtet worden ist. Ueberdieß aber charakterifirt sich die ganze Sage von vornherein als ungeschichtlich. „Alle Züge dieses Ereignisses", sagt H. Gelzer, „spielen in das Land der Wunder. Gelingen in Allem, was der Held unternimmt. Er vollbringt glücklich den Apfelschuß, er allein rettet das Schiff im Sturme, er hindert es mit einem einzigen Stoß an der Landung, er erlegt ungefährdet den Tyrannen. Daß alle diese Züge, von denen jeder einzeln schon des Wunderbaren genug hat, sich noch so rasch folgen, daß sie so in ein einziges Drama verknüpft sind, verräth für Jeden, der mit der Eigenthümlichkeit der Sagenbildung vertraut ist, daß hier ebenfalls die Hand der Sage gewaltet hat."
Der Kern des Naturmythus, aus dem sich die Sage von Tell und Geßler entwickelt hat, wird in den Volksfesten dargestellt, die in der Zeit von den Fasten bis Pfingsten den Sieg des Lichtes über das Dunkel, des Sommers über den Winter feiern, und von denen Rochholz eine große Anzahl beschreibt, die früher an verschiedenen Orten der Schweiz abgehalten wurden. Sieben Burgen des Winters müssen nach altindischem Glauben gebrochen werden — die sieben Wintermonate von Oktober bis Mai — und zwar müssen sie mit Pfeilen beschossen werden, welche die Sonnenstrahlen des Lichtgottes versinnbilden. Symbolische Handlungen der Art kommen vielfach vor. Das ursprünglichste Verfahren dabei schildert uns Geiler von Kaisersberg in den Mumelspiel seiner Heimath bei Schaffhausen, dem er 1352 bei- wohnte. Man baute hier aus Bäumen und Neißig eine „Weihnachtsburg", die dann von den Nachbarn belagert, mit Pfeilen und Bolzen aus Nüben- schnitzen beschossen und schließlich erstürmt wurde, worauf die Bauern sich zusammensetzten und „eine ehrbare Freude mit einander hatten." Anderswo trat der Winter als „Wilder Mann", als Bär, als Drache, als Räuberbande, als Landesfeind u. d. auf, um schließlich überwunden und vernichtet zu werden. Ueberall war der Grundgedanke: nach langwierigem Kampfe zwischen dem winterlichen Tyrannen und dem Helden Lenz erliegt jener den Sonnenpfeilen, die dieser auf ihn abschießt.
Dieser Naturmythus, der allen arischen Völkern gemeinsam war, hat dann in sehr alter Zeit schon ethischen Gehalt gewonnen und ist zuletzt, gleich manchem andern, zu einem angeblich geschichtlichen Ereignisse geworden, mit dem andere Züge aus Naturmythen sich verschmolzen. So ist die Befreiung vom Winter zur Befreiung von der Herrschaft eines grausamen Men-