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Am 29. Mai kam der Antrag von Laster und Genossen zur Berathung: die Nr. 13 des Artikel 4 der Reichsverfassung abzuändern. Diese Nummer besagt jetzt, daß das Obligationenrecht, Strafrecht. Handels- und Wechselrecht und das gerichtliche Verfahren der Gesetzgebung des Reiches unterliegen. Die Antragsteller wollen das gesammte bürgerliche Recht und nicht blos das Obligationen-, Handels- und Wechselrecht als Theile des bürgerlichen Rechts der Neichsgesetzgebung unterwerfen. Der Antrag ist bereits einmal im norddeutschen Reichstag und einmal im deutschen Reichstag gestellt worden und beidemal hat ihn die Mehrheit des Reichstags zu dem ihrigen gemacht. Die früheren Anträge gingen sogar noch weiter, indem sie die Organisation der Gerichte und nicht blos das gerichtliche Verfahren, wie die Reichsverfassung schon thut, der Reichsgesetzgebung unterwerfen wollten. Auch diesmal hat die Mehrheit des Reichstags den Antrag zu dem ihrigen gemacht. Auch diesmal wird der Beschluß des Reichstags schwerlich die Zustimmung des Bundesrathes finden, obwohl die leitende Bundesregierung ihre Geneigtheit für den Antrag soll zu erkennen gegeben haben.
Wir unsererseits theilen aufs dringendste den Wunsch, daß das deutsche Recht ein einheitliches und ganzes sei. Auch wissen wir sehr gut, daß dieses einheitliche Recht nur durch die Neichsgesetzgebung geschaffen werden kann. Gleichwohl möchten wir Herrn Lasker zurufen: nicht zu hitzig! Das einheitliche bürgerliche Recht kann nur geschaffen werden durch ein deutsches Civilgesetzbuch, durch eine einheitliche Codisication, oder besser durch eine Jncor- poration des geltenden Rechts. An diese Aufgabe können wir augenblicklich noch nicht gehen, weil sie zwar sehr lohnend, nützlich und sogar unerläßlich, aber doch nicht die eiligste von allen Aufgaben ist, die uns obliegen. Nun wohl, so lange wir an das deutsche Civilgesetzbuch nicht denken können, können wir auch die Neichseompetenz für das gesammte bürgerliche Recht entbehren. Da sagt freilich Herr Lasker: wir brauchen diese Kompetenz schlechterdings sofort, um bei der Ordnung des Obligationenrechtes nach Bedürfniß in die dem Reich noch entzogenen Gebiete des bürgerlichen Rechtes hineingreifen zu können. — Sehr wohl; das ist einzusehen, daß die Ausscheidungslinie des Obligationenrechtes nicht innezuhalten ist. Aber warum, für die jetzt schon unvermeidlichen Uebergriffe in Nechtsgebiete, für die das Reich noch nicht compe- tent ist, nicht einfach den Artikel 78 der Neichsverfasfung anwenden, welcher besagt: Veränderungen der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetzgebung; sie gelten als abgelehnt, wenn sie im Bundesrath 14 Stimmen gegen sich haben?*)
") Wir müssen in diesem Falle dem Abg. Lasker gegen unsern Herrn Korrespondenten durchaus Recht geben. D- Red.