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Mischen Mantel umzuhängen. Die Tendenz, die zwischen Hoch und Niedrig, Reich und Arm bestehenden Gegensätze auszugleichen, lag Sue durchaus fern; er speculirte auf den verdorbenen Geschmack des Publicums; und um diesen zu befriedigen, riß er, so weit es in seiner Macht stand, unbedenklich die Schranken nieder, durch welche die Familie sich vor dem Andringen der jeder festen auf alter Sitte beruhenden gesellschaftlichen Ordnung feindlichen Elemente schützt.
Mit dieser verhängnißvollen gesellschaftlichen Verirrung, die unter dem Kaiserthum einen kaum überschreitbaren Höhepunkt erreichte, traf nun die nicht minder verhängnisvolle Entartung zusammen, der die Literatur und Kunst, nachdem sie die Fesseln der Classieität abgeworfen, allmählig anheimfiel: eine Entartung, von der Sue nicht das erste Beispiel bietet. Gewiß bezeichnete der Bruch mit der steifen und geschnörkelten Unnatur und falschen Idealität des Classicismus einen unermeßlichen Fortschritt. Aber es zeigte sich nach einer kurzen glänzenden Blüthezeit der Romantik, daß der Franzose der Regel auch in der Kunst bedarf, um sich nicht ins Regellose, in die vollständigste ästhetische Anarchie zu verlieren. Es läßt sich die Romantik, natürlich ohne damit ihren Begriff zu erschöpfen, als eine Reaction der Natur gegen die conventionelle mit dem Schein der Idealität sich brüstende Unnatur bezeichnen — und in dieser Beziehung sind bereits Rousseau und die ' um ihn sich gruppirenden Schriftsteller als Vorläufer der Romantiker zu betrachten. Aber indem man die Natur an die Stelle der Convenienz setzte, fühlte man doch auch zugleich, daß die Kunst die Wirklichkeit zu idealisiren habe, daß die poetische Wahrheit nichts gleichbedeutend sei mit der natürlichen Wirklichkeit. Man begriff sehr wohl, daß der Classicismus nicht eigentlich an dem ihm innewohnenden idealen Element sich abgenutzt hatte, sondern an der Unnatur, dem conventionellen Formalismus, dem er in dem Ringen nach Idealität verfallen war. Des Idealismus selbst aber konnte die romantische Kunst so wenig wie die classische entbehren.
Aber gerade an und in dem Streben nach dem Idealen ist die romantische Kunst ebenso gescheitert, wie die classische. Hatte der Classicismus die Idealität in der Verbannung des Natürlichen aus der Kunst, in der Einzwängung der Sprache, der Gefühle, der Leidenschaften unter das eine jede freie Bewegung des dichterischen Geistes erstickende unverletzbare Gesetz gesucht, hatte er die Kunst gerade ebenso einer akademischen, wie Ludwig der Vierzehnte die Gesellschaft einer höfischen Etikette unterworfen: so suchte die Romantik, nachdem sie daK Recht der Natur der willkürlichen Regel gegenüber zur Anerkennung gebracht, das Kunstideal theils durch die Uebertreibung und Verzerrung der Natur ins Ungeheuerliche zu verwirklichen, theils aber verlief sie sich, um einen idealen Inhalt zu gewinnen, in Reflexionen und Betrach-