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dieser Reform riicht einzustimmen. Seit dem Erscheinen der in der Staatswissenschaft eine neue Epoche beginnenden Werke von Gneist haben die deutschen Staatsansichten unter dem hinzukommenden Einfluß der großen Staatsleistung Bismarcks eine veränderte Richtung genommen, deren Ziel noch nicht als abgeschlossene Anschauung vorliegt. Sicherlich aber führt diese Richtung uns zu einem Ernst, einer Tiefe und Klarheit der Staatsauffassung, wie sie noch kein Volk besessen hat. Wenn man vom Standpunkt dieser Staatsansicht, die sich vor uns, in uns bildet, an der mitzubilden die würdigste Aufgabe ist, die früheren Kreisordnungsentwürfe mustert, so kann man sich eines lebhaften Schauders nicht erwehren. Mehr oder minder läuft das Bestreben derselben darauf hinaus, dem Parlamentarismus auf dem Dorfe, im Kreise, in der Provinz, kurz überall wo sich ein Fleckchen sür denselben entdecken läßt, eine Stätte zu bereiten. Der Liberalismus auf seiner unreifen Stufe war in Begriff, unbewußt das zu thun, was Fürst Bismarck mit überlegenem Bewußtsein im Scherz als eine seiner Aufgaben hingestellt haben soll: den Parlamentarismus durch den Parlamentarismus todt zu machen. Wären jene unreifen Reformgedanken dauernd ins Leben getreten, sie hätten überall hin Verwirrung und Auflösung getragen, und schließlich Nichts zurückgelassen, als die Sehnsucht nach einer Alles allein thuenden Staatsverwaltung wie in Frankreich. So oft ein Entwurf der Kreisordnungsreform auf der Tagesordnung gestanden, hat er jedesmal eine bessere Gestalt getragen. Man kann nicht warten, bis die vollkommenste Theorie entdeckt ist, ehe man die Praxis reformirt. weil Theorie und Praxis sich an einander bilden. Darum ist es gut. daß wir jetzt einmal den Schritt zur Besserung der Praxis thun. Aber es ist nicht minder gut. daß wir nicht früher dazu gekommen. Denn der theoretische Apparat, mit dem wir es unternehmen wollten, war allzu untauglich. Wir hatten bisher noch nicht das gelernt, was wir lernen konnten, ohne an unserem eigenen Fleisch und Blut zu experimentiren. Die Lehrer haben sich gefunden, die uns zeigen, was das Studium des bisherigen Staates in alter und neuer Zeit zeigen kann. Nun mögen die Experimente an unserem eigenen Leben beginnen. Wir wissen nun wenigstens soviel, um uns nicht in der besten Absicht von der Welt die eigenen Adern zu öffnen.
Wir wollen nun die hauptsächlichen Neuerungen der jetzt vorgelegten, vom Abgeordnetenhaus durchberathenen und genehmigten Kreisordnung ins Auge fassen.
Der preußische Kreis ist bekanntlich eine Verwaltungseinheit, welche in der Gliederung des Staates von oben bis jetzt das dritte Glied bildet. Ueber dem Kreis steht einstweilen noch als nächsthöhere Verwaltungseinheit der Regierungsbezirk, darüber die Provinz. Darin wird durch die jetzige Kreisordnung Nichts geändert, wiewohl dieselbe allerdings Bezug nimmt auf ein Gesetz über die Reorganisation der inneren Verwaltung, in Erwartung dessen die Kreisordnung'gewissen Anordnungen einen provisorischen Charakter zuerkennt. Wir unsererseits hoffen und wünschen, daß das in Aussicht gestellte Gesetz über die Reorganisation der inneren Verwaltung nur Eine Zwischenstufe zwischen Kreis- und Centralverwaltung aufrecht halten wird, die am Besten als Provinz zu bezeichnen ist. Man wird jedoch dabei auf kleinere Provinzen als die jetzigen zurückkommen müssen, wie denn die jetzige Provinz Preußen früher in Ost- und Westpreußen getheilt war, die Rheinprovinz in Jülich-Cleve-Berg und Niederrhein.
Unter dem Kreis gab es bisher nur Eine Verwaltungseinheit, nämlich die Ortschaft. Es' gab bereits Städte, die einen eigenen Kreis für sich bildeten.