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Berliner Briefe.
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tion Europa's abwarten wird, ehe sie sich zu einem Kriege entschließt. Man scheint allerdings jetzt in Versailles entschlossen, die allgemeine Wehrpflicht durchzuführen und der Satz, daß die allgemeine Wehrpflicht den Frieden sichert, ist ganz verzweifelt unhaltbar. Die Annalen der Geschichte hätten längst von keinem Kriege mehr zu berichten, wenn es wahr wäre, daß die Völker fried­liebend sind. Im Grunde geht ja die ganze Beweisführung auf das Ho- razische

HuiähuiÄ ÄLlirant reZski, pleetuntur ^eiiivi zurück, aber die Könige sind eben so oft von den Völkern geführt worden, als sie die Völker geführt haben und heute mehr als je. Die reindyna­stischen Interessen" haben nur verhältnißmäßig kurze Zeit geherrscht. Die allgemeine Wehrpflicht könnte für die französische Republik sein, was für das öMM-e Chasfepot und Mitrailleuse waren Waffen, wenigstens die erste, durchaus nicht verächtlicher Art. Wird die allgemeine Wehrpflicht in Frank­reich eingeführt, so werden wir Sorge zu tragen haben, nicht numerisch über­flügelt zu werden, was wir um so leichter vermeiden können, als Deutschland Frankreich im Reichthum an Männern übertrifft. In dieser Beziehung wird Roon wohl Vorsorge tragen und daß der Reichskanzler hinsichtlich der aus­wärtigen Politik müßig sei, dürfte kaum Jemand ernstlich besorgen.

Der Wunsch Oestreichs, in Frieden und gutem Einvernehmen mit Deutschland zu leben, ist sicherlich aufrichtig, denn'dieses gute Einvernehmen ist nothwendig, um der inneren Wirren Herr zu werden. Daß eine Freund­schaft mit Oestreich und Rußland zu einerheiligen Allianz" führen könnte, ist unter den gegenwärtigen Umständen eine Befürchtung, welche wohl nur im Scherz geäußert wird. Die heilige Allianz ist so vollständig dahin, wie ihre Zeitgenossin, die Romantik. Nicht bloß die heilige Allianz ist todt, son­dern auch ihre jüngste und letzte Tochter, die preußische Reaction der fünfziger Jahre. Wohin sind die Männer, welche einst den Club der Wilhelmsstraße bildeten, welche in die Ideen des geistvollen Königs Friedrich Wilhelm IV. eingingen? Sie sind von der Erde verschwunden. Nur Herr v. Gerlach schleicht noch als Gespenst umher, so traurig, daß man versucht sein kann, ihn zu fragen, wie Horatio den Geist:

Ist irgend eine gute That zu thun, Die Ruh' dir bringen kann."

Die Zeit ist so ganz, ganz anders geworden. Und es scheint, als ob wirklich gerade jetzt ein frischerer Hauch, freilich nur noch leise, durch das politische Leben Deutschlands ginge, als ob noch einmal der Versuch gemacht werden sollte, ob wir in zwanzig Jahren, in Revolution, Reaction, Conflict und Krieg gelernt haben, die politische Freiheit mit den absoluten Forderun­gen des Staates zu vereinigen. Der Fürst Bismarck ist sicherlich kein Libe­raler im gewöhnlichen Sinn des Worts, er hat zuerst den Parlamentarismus bekämpft, als er glaubte, daß dieser das Königthum bedrohe, er sucht der Aristokratie eine hervorragende Stelle im Staate zu wahren, aber sicher em­pfindet er auch, daß das Gebäude, welches er gegründet hat, doch nur fest steht, wenn es von einem politisch denkenden, freien Volke getragen wird. Das Volk hat alle nöthigen Eigenschaften zu dieser Rolle, wenn die Führer ihm nicht fehlen. o. 'W.

Berichtigung: Der Verfasser des in den beiden letzten Heften der Grenzboten enthaltenen ArtikelsJordans Nibelunge" heißt I. V. Widmann, nicht Wichmann. D. Red.

Verantwortlicher Redacteur: Dr. Hans Blmn. Verlag von F. L. Hervig. Druck von Hüthcl H Leglcr in Leipzig.