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Die Wahlen im Großherzogthnm Hessen.
Die Bewegung, die gegenwärtig im Hcssen-Darmstädtischen vor sich geht, beansprucht, so klein das Land im Verhältniß zu andern deutschen Vaterländern ist, ein besonderes Interesse auch außerhalb der Grenzen desselben. Zunächst ist es immerhin von ebner gewissen Bedeutung, wenn in einem der kleineren Mittclstaaten sich von unten herauf ein Umschwung der Dinge vorbereitet, der mit der großen nationalen Bewegung im Wesentlichen zusammenfällt. Sodann aber bildet das Großherzogthum Hessen durch seine Läge wie durch die Art seiner Bewohner einen der Uebcrgängc aus dem Norden zum Süden Deutschlands, und je nachdem es sich dahin oder dorthin neigt, wird es mehr oder minder bestimmend für die öffentliche Meinung im Süden. Wie ein Land gleich dem Königreich Sachsen sich entscheidet, ist für den Bayern, den Schwaben und den Badener weit weniger bedeutsam, als die Richtung, die das dreimal schwächere Großherzogthum Hessen einschlägt. Man erinnere sich, daß letzteres der erste deutsche Staat war, der sich dem von Preußen beabsichtigten Zollverein in seiner vollen Ausdehnung anschloß, und man bedenke, welche Wirkung der Beitritt desselben zu dem preußisch-französischen Handelsvertrag gegenwärtig auf die Regierungen in den beiden südlichsten Staaten der Würzburger Koalition ausüben würde. ^ ,
Aber auch an sich schon ist es eine Freude, zu sel>en, wie das hessische Volk nach sechsjähriger systematischer Ertödtung seines constitutioncllen Lebens rüstig ans Werk geht, sich sein Recht wieder zu gewinnen. Der Kampf, zu dem es sich in den Wahlen anschickt, ist derselbe, der vor einigen Jahren in Bayern mit dem Sturz des Pfordtenschcn Regiments endigte, und die Persönlichkeit, der es hier gilt, ist nicht weniger eine Stütze aller illiberalen und antinationalen Bestrebungen gewesen, als der ehemalige bayerische Premier. Noch erhöht aber wird das Interesse, wenn wir bemerken, wie Wind und Sonne hier weit ungleicher vertheilt sind als dort, und wie trotzdem das Volk mit derselben Energie und Siegeszuversicht an die politische Arbeit geht.
' > Das hessische Wahlgesetz, von einer octroyirten Kammer gutgeheißen, ist eines der abnormsten und ungeheuerlichsten in ganz Deutschland. Es macht den Sieg der Fortschritts- und Rechtspartei dem Anschein nach fast unmöglich, wird aber in diesem Fall zum Beweis werden, daß ein überwiegend freisinnig denkendes Volk auch mit dem schlechtesten Wahlgesetz gute Wahlen zu Stande bringt, falls es nur zweckmäßig organisirt ist und einmüthig zusammensteht. An guten Beispielen dazu hat es nicht gefehlt, an geschickten Führern ebenso wenig. Preußen lieferte in seinen letzten Wahlen das Vorbild, der Nationalverein hat trefflich gewirkt, aufzuklären, zu gewinnen und zu bestärken; das Ergebniß dieser Einflüsse wird eine Kammer sein, die in ihrer Mehrheit das Gegentheil von dem darstellen wird, was die Schöpfer des Wahlgesetzes beabsichtigten. Nach letzterem ist die Wahl eine in-
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