Mehrteiliges Werk 
Brief von Caroline Christiane Louise Rudolphi an Dorothea Focke, 04.03.1806
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transkribiert von Wilhelm, Stina

Heidelberg. d. 4. März. 1806

Meine liebe Doris,
Daß ich dir meinen letzten Brief nicht anrechnen will, darum sollst du heute
den Beweis haben. So wenig ich auch heut schreiben kan̅, so sollst du doch
wenigstens meine freut über meine kleine Milinka mit mir theilen.
Seit dem letzten Febr. nen̅e ich dies fröhliche Gesunde gutartige Wesen
mein, und es verbreitet ein ganz eigenes neues Leben über unser
ganzes Haus. Milinka ist 4 1/2 Jahr alt. Sie hatte vor 6 Monaten
das Unglück ihre Mutter zu verlieren. Und der Vater sahe seinem
auch jungen sehr geliebten Weibe seine beiden jüngsten Kinder bald
darauf ins Grab folgen. Milinka ist nun sein einziges kleines,
das einzige Wesen an dem er auf dieser Erde hängt. Dies kleineres hat
er mir anvertraut, und hält es für keinen kleinen Gewinn daß ich ein-
gewilligt habe. Er ist ein Kaufmann und hat seine Handlung in Peters-
burg etabliert. Seit drei Jahren wohnt er mit seiner Kl. Familie
hier in Heidelberg. Milinka ist in Petersburg gebohren. Der Vater
reiset jetzt wieder dahin um nach seinen dortigen Angelegenheiten selbst
zu sehen. Dan̅ wird er auch eine größere Reise machen, und sich nach-
her vielleicht ganz in dieser Gegend gesetzen.- Da ist nun dies
Kind ganz in meinem Händen. Es schläft an meiner Seite. Sein beinchen
steht dort neben meinem, ich bringe es schlafen. Emilie besorgt es
des Morgens. Emilie ist halb närrisch vor Freude über das Kind.
O Doris! Doris! Wie bewegt die reine unverdorbene Kindheit unser letztes