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Die Bedeutung der Kunstgeschichte für unsre Zeit.
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menschlichen Geistes aufzufassen, wie jede andere Geschichte. Der Historiker wird jetzt nachweisen müssen, wie Stoff und Form der Kunst mit innerer Nothwendigkeit sich aus der jedesmaligen Bildungsstufe der Menschheit in Religion und Sitte entwickelt, und die Vorliebe für die eine oder für die andere glänzende Leistung wird ihn nicht mehr abhalten, auch den entgegengesetzten Richtungen ihr Recht widerfahren zu lassen; er wird den modernen Freunden der Kunst nicht mehr empfehlen, sich das beliebige Kunstideal einer vergangenen Zeit anzueignen, sondern er wird sie ausfordern, sich in das eigne Leben ihrer Zeit zu vertiefen, demselben seine poetischen Seiten abzugewinnen und es in das Reich des Ideals zu erheben; er wird sich auch gegen den reinen Realismus nicht sträuben, in­sofern er denselben als Uebergang zu einer höheren Idealität aufsaßt.

Und hier kehren wir zu unsrem Ausgang zurück. Die zweite Ausgabe der Kuglerschen Kunstgeschichte ist das Resultat des weitläufigen Processes, den wir beschrieben haben. Daß auch in ihr noch vieles mangelhaft ist, wer­den die Verfasser am besten wissen; aber als kräftiger Ausdruck des richtigen historischen Princips wird sie einen ehrenvollen Platz in unsrer Literatur be­haupten.

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Ein anonymer Roman, 3 Bde. Hamburg, Agentur des Rauhen Hauses.

Es ist ein Zufall, daß wir dieses Buch, welches in der Literatur einen ungewöhnlichen Skandal erregt hat, bisher nicht besprochen haben; umgehen dürfen wir aber die Besprechung nicht. Zwar ist die künstlerische Bedeutung des Werks gering anzuschlagen, aber es handelt sich hier um die öffentliche Moral.

Unsre Leser werden sich noch an die Besprechung von Mar Waldau er­innern. Kurze Zeit nach derselben starb der junge talentvolle Dichter, vielleicht infolge der organischen Krankheit, die er in einem'seiner Romane mit so hef­tiger Beredtsamkeit geschildert hat. Was wir damals über die Komposition sei­ner Romane gesagt haben, läßt sich fast durchaus auf das gegenwärtige Werk anwenden. Zwar kommen in demselben eine Menge Begebenheiten vor, zum Theil sehr schauerlicher und Abscheu erregender Art, allein diese werden nur nebenher erzählt; die Hauptsache sind die Reflexionen, die in verschiedenen Formen austreten, als Tagebuchblätter, als Gespräche, als Reden u. s. w. Da nun die verschiedenen Reflexionen zueinander in keinem dialektischen Ver­hältniß stehen, vielmehr in der buntesten Mannigfaltigkeit ganz beliebig durch- nnandergewvrfen werden, da sie nur sehr wenig dazu helfen, die Charaktere