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schwendet, die ihnen nicht augenblicklich Gelegenheit zu einem neuen Epigramm, zu einem neuen pathetischen Neim gibt, die sie nicht zu einem augenblicklichen Eindruck auf das Publicum verwerthen können. Was haben nicht dagegen Goethe und Schiller an sich selbst gearbeitet, ohne vorher daran zu denken, an welcher Stelle sie jede einzelne Frucht ihrer Lectüre anbringen sollten! Man hat über Schillers historische Arbeiten gespottet; wer aber bei Wallenstein oder bei Wilhelm Teil daran zweifeln kann, daß Schillers historische Anschauung weit reicher und voller war, als die der meisten Historiker, für den ist Poesie überhaupt nicht geschrieben. Man hat über Schillers philosophische Studien gespottet, und gewiß haben sie seine Technik nicht grade unterstützt; aber durch , sie hat er jene Reife erlangt, die seine Werke den spätern Jahrhunderten werth machen wird, während die modernen Dichter, welche Philosophie und Geschichte nicht studiren, sondern einige Phrasen daraus auswendig lernen, um der unwissenden Menge zu imponiren (z. B. „Der Mensch ist Gott :c."), in zehn Jahren vergessen sein werden, weil ihr ganzer Neiz im Reiz der Neuheit liegt. Goethe hat, wenn auch nach einer andern Seite hin, ebenso tiefe philosophische Studien gemacht, als Schiller, und wenn ihm dabei die Geschichte fremder blieb, so hat er dafür an der Naturwissenschaft und der plastischen Kunst seinen Geist gebildet, nicht, wie es wol heutzutage geschieht, daß man die Dresdner Galerie durchläuft und sich merkt, daß die Sirtinische.Madonna seelenvolle Augen habe, daß Nembrandt am braunen Colorit zu erkennen sei, Rubens an seinem gesunden Fleisch u. s. w., sondern wie der Schüler studirt, der Meister werden will.
Die Dichtkunst wird nicht eher wieder bei uns aufblühen, bis es unsre jungen Talente ebenso machen, wie Goethe und Schiller. Die Formgeschicklich- keit an sich hilft noch nichts, wenn man nicht einen positiven Inhalt zu bieten hat. Es ist mit der Kunst grade wie mit der Wissenschaft. Sowie der Gelehrte nur denjenigen Stoff zur Befriedigung der Kenner bearbeiten wird, den er vollkommen beherrscht, so wird der Künstler nur dasjenige darstellen können, was er nach allen Seiten hin durchfühlt und durchdacht hat. Wenn sich der Dichter ein Problem setzt, von dem er nichts weiß, als einige Stichwörter, so wird er vielleicht für den Augenblick die unwissende Menge täuschen, aber eine schnelle Vergessenheit wird sein verdienter Lohn sein.
. Eine zweite nothwendige Vorbildung des Dichters ist, daß er lebt. Die meisten unsrer Dichter führen nur ein Scheinleben. Abgesehn von kleinen Liebesintriguen, bei denen meistens die Reminiscenz maßgebend ist, und, etwa einer Reise nach Paris, wo sie an jedem Ort, vom Hotel de ville bis zum Pere la Chaise, die hergebrachten Empfindungen haben, die im Reisehandbuch verzeichnet sind, zeigen sie sich der Gesellschaft nur in der Dichterpositur. Sie empfangen für die Declammion ihrer Verse bei der Theegesellschaft das ge- Grenzbotcn. IV. -I8öi. 52