Beitrag 
Plaudereien aus Wien.
Seite
303
Einzelbild herunterladen
 

303

aneinander vorüberrenncn sehen; keiner bleibt stehen und bewundert des andern Rock oder des andern Bartschnitt, wie sonst in guten Zeiten; keiner wiegt sich stolz und selbstbewußt in den langen Schößen eines neuen Paletot, niemand verweilt mit dem frühern Behagen vor den großen Schaufenstern unsrer Modistcn, wo neben bunten Caschemirs die modernsten Trauerstoffe hangen und die wächsernen Puppen, trotz allen Flitters und Putzes, mit dem sie angethan sind, eine so unheimliche Erinnerung wecken. Gehen sie ins Cafv, so steckt ihnen der Marqueur -1000 getödtete Russen mit dem Abendblatt in die Hand; ein Freund der Alliirten wirft ihnen einige zerstörte Forts nebst 300 Bomben, Haubizen und anderem Schlußbedarf ins Gesicht; aus einer andern Ecke seufzt ein Speculant: die Pariser Rente höher gekommen? und wieder aus einer andern wird Preußen als Großmacht feierlichst herausgeworfen. Das ist nun freilich öffentliche Meinung und kann für die Physiognomie der höhern Ge­sellschaft, der eingeweihten Kreise nicht maßgebend sein. «Indeß auch in den kleinern Privatcirkeln ist jetzt keine Ruhe und kein Seelencomsort zu finden. Die Dame vom Hause empfängt Sie zuweilen mit einem schmerzlichen Lächeln, das auf innere Gemüthszustände weift, die nur durch eine Tasse Kamillenthee oder durch einen der neu erfundeneneeinwres äs santv" beschwichtigt werden können; Papa kauert tiefsinnig in der Sophaecke und lauscht gewissen Tönen, die nicht vom Pianoforte, nicht aus dem Salon, nicht aus einem Nebenzimmer, auch nicht von einer andern Person herrühren, sondern melodramatisch aus des Körpers eignem Innern hörbar werden, ein geisterhaftes Kollern und Näuspern. Und dort sitzt- ein junger Mann, bleich und angegriffen, die Blicke stets der Thür zugewandt, als wollte er jeden Augenblick den schleunigsten Rückzug gesichert haben, seine HaNd ruht in der Hand seiner Braut, aber sein Geist ist anderwärts. Und auch die sämmtlichen PepiS und Nettis und Katiö und Tonis, welche die Anlichambres bevölkern, nicht minder die Heiminen, Aurelien, Sigismunde, Cäsaren und Thusnelden, welche den auf-und ab­lausenden Stammbaum der Familie bilden. Alle befinden sich in so zerrütteter Stimmung, daß ein Hausfreund allen moralischen Muth zusammenfassen muß, um dem allgemeinen Panic unversehrt entgehen zu können.

Kein Wunder, daß bei solchen Zuständen der Gesellschaft alle höheren In­teressen schweigen, daß der Doctor allein den Salon und die Boudoirs beherrscht, daß.!Heines Selbstbiographie von Dowerschen Pulverchen überstreut auf dem Tische liegt und George Sands Memoiren hin und wieder von einem sanften Lindenblütenthee Übergossen werden. Höchstens sucht man sich durch donnernde Kriegsnachrichten zu übertäuben, man möchte dem heimtückischen Tode wtra murvs entrinnen und sich lieber dem Menschikoff mit seinen. Langröcken und Langbärten entgegenstürzen, wenigstens auf den Parallelen der Zeitungs­spalten. Wetten auf die Einnahme von Sebastopol werden zu hohen Einsätzen