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Neligionsphilosophie.
Studien und Skizzen aus den Ländern der alten Cultur. Vierzehn Vorlesungen von Julius Braun. Mannheim, Bassermann u. Matthy. —
Das Buch zeichnet sich durch eine Eigenschaft aus, die bei archäologischen Werken wol nur sehr selten vorkommen dürfte, nämlich durch eine glänzende Darstellung. Der Verfasser weiß die Gegenden, in denen er sich bewegt,' der Einbildungskraft in so kräftigen und cinmuthigen Farben vorzuführen, und seine mythologischen Ansichten so zierlich, gleichsam arabeskenartig darin zu verweben, daß jeder Leser gefesselt wird, und daß sich wenigstens in vielen Fällen für einen Augenblick die Ansicht des Verfassers der Phantasie einschmeichelt. An sich wäre es nun vortrefflich, wenn man zu gleicher Zeit über die wichtigsten Fragen der Wissenschaft belehrt und anmuthig unterhalten werden könnte; wir müssen aber dennoch bezweifeln, daß dies der richtige Weg ist, das Publicum in sehr schwierige Fragen einzuführen, die nicht durch die Einbildungskrast, sondern durch den kritischen, allseitig prüfenden Verstand entschieden werden müssen.
Der Verfasser gehört nämlich zu der Schule, die unter andern die Alias und Odyssee wie zwei Kunstgedichte moderner Art, verfaßt von einem Dichter Namens Homer, betrachtet, und das gesammte griechische Göttersystem aus Acgypten herleitet. Er ist also in der ersten Beziehung noch viel rechtgläubiger, als selbst die Engländer, die wenigstens den Verfasser der Odyssee von jenem der Jlias trennen. Abgesehen von der Kühnheit, sich vor der Erfindung der Schreibekunst einen Dichter zu denken, der für seine künstlerischen Zwecke weite Reisen macht, um in seinen Werken die Localfarbe streng festzuhalten, und der dann nach einem bestimmten Plan verfährt, die Ereignisse gruppirt, den Göttern neue Bedeutungen beilegt und dgl. — eine Schwierigkeit, die wir hier nicht berühren, da wir hoffen dürfen, in nächster Zeit einen Abriß von dem gegenwärtigen Stand der Streitfrage zu geben — liegt dieser Ansicht noch ein anderes Moment zu Grunde, das uns hier wichtiger erscheint, weil es sich auf die Principien der Religion und Dichtkunst überhaupt bezieht.
Nach der Auffassung, die bisher in der deutschen Kritik geherrscht hat, sind die homerischen Dichtungen, gerade wie die spätere Plastik, Ausflüsse des griechischen Volksgeistes, der durch das Organ verschiedener Künstler sein religiöses Bewußtsein entwickelt und firirt hat.
Nach Herrn Braun dagegen sind Jlias und Odyssee Dichtungen im strengsten Sinne des Wortes, d. h. bewußte Erfindungen zu künstlerischem Zweck, zum Theil mit Nichtachtung, zum Theil im offenen Widerspruch gegen die herrschende Religion.