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Literaturgeschichte.
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eines Lesstng und Kant ist, wenn nicht verloren, doch vergessen! Dafür haben wir nun aber alle jene falschen Tiefsinnigkeiten, alle jene ungesunden und phantasti­schen Liebhabereien, alle jene specnlativen Spielereien und dialektischen HocuspocuS, alle jene unbewußten Selbstbelügungen und Jllusioueu eingetauscht, alle jene ein­gebildeten Reichthümer des Glaubens nud Wissens, welche, wenn einmal der rechte Verstand, der Lessing des 19. Jahrhunderts, kommt, sich in lauter Schein und Dnnst auflösen werden."

Diese ganze AuseiUandersetznng ist nns ans der Seele gesprochen. Der Grundirrthum unsrer ganzen Bildung ist der eingebildete Contrast zwischen Ver­stand und Gefühl, ein Kontrast, den wir schon bei Goethe antreffen, den aber die Romantiker und ihre Nachfolger dadurch noch mehr ins Unnatürliche und Un­sittliche zogen, daß sie etwas für Gefühl ausgaben, was der unbedingte Gegensatz des wahren Gefühls ist, nämlich die nervöse Erregbarkeit, der man durch inhalt­lose Verstandesspielercien schmeichelte. Sowie man 'den Verstand mit der Nüch­ternheit, so , hat man das Gefühl mit der Empfindsamkeit verwechselt; aber der Verstand, der nicht weit sieht, ist überhaupt kein Verstand, uud das Gefühl, welches nicht stark, wahr und beständig ist, verdient diesen Namen nicht. Von den modernen Verächtern des Verstandes wird man freilich in den meisten Fällen behaupten können, daß sie keinen Verstand haben; noch weit sicherer aber und unbedingter wird man von ihnen annehmen können, daß sie auch ohne Gefühl sind. Denn der Verstand, welcher schnell und sicher die Gegenstände uud ihre Beziehungen unterscheidet, und das Gefühl, welches im richtigen Moment das Herz stärker schlagen läßt, sind in ihrem höheren Grunde ein uud dasselbe. Ein starker kritischer Verstaub ist nicht denkbar ohne Theilnahme des Herzens, ohne Liebe uud Haß, ohne die Leidenschaft des Denkens; ein warmes Herz nicht möglich ohne Kühnheit und Integrität des Urtheils. Nur würden wir der Ansicht sein, daß man mit der Anerkennung und Durchführung dieses Grundsatzes nicht warten soll, bis ein zweiter Lessing kommt; die Natnr ist nicht so ausgiebig au großen Män­nern, daß sie zweimal in einem Jahrhundert nach derselben Richtung hin die gleiche Stärke entwickelte; ebenso vergeblich erwarten wir schon seit längerer Zeit einen zweiten Goethe, einen zweiten Friedrich den Großen. Wenn uns aber die menschenbildende Kraft einen zweiten Genins versagt, so hat sie nns dafür ein reiches Bildungsmaterial überliefert, nnd daß auch das allgemeine Gewissen trotz aller Korruption, trotz aller Sophistik und Phantastik noch nicht ganz unterdrückt ist, zeigt uns der lebhafte Anklang, den jede ernste sittliche Richtung findet, sobald sie einmal unerschrocken und glaubcusfroh hervorzutreten wagt. Wenn das Werk, das damals in die Hand eines großen Mannes gelegt war, jetzt von schwächeren Kräften fortgeführt werden muß, so haben wir dagegen den Vortheil, nicht mehr alleinzustehen und die Erben einer höheren nnd reiferen Bildung zu sein. Les- siugs Geist können wir uns nicht geben, aber gleich ehrlich, gleich gewissenhaft