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Seit Nußlands Aufkommen ist Deutschlands gen Morgen gewendeter Stern im Niedergehen begriffen. Gegenwärtig ist dieses Factum, obwol von allen Parteien ungern eingestanden, dennoch so allgemein bekannt, daß es eines Nachweises nicht mehr bedarf. Aber es gab eine Zeit, in welcher die Triumphe der Taktik Friedrichs und die politischen Erfolge Herzbergs darüber wegsehen ließen. In einer andern Periode hatte Deutschland alle seine Sorgen westwärts gerichtet, von woher' ein gewaltiger Eroberer zermalmende Schlage gegen Preußen und Oestreich geführt hatte uud für so groß erachtete mau, auch uach dessen Ueberiviudnng durch die alliirten Mächte Europas, die Gefahr, welche aus jener Weltgegend Deutschland drohen mochte, daß man darüber völlig die andere vergaß, die an der östlichen Grenze lauerte.
Weuu man die Dinge uimmt, wie sie wirklich sind, jede Vorstellung aus Thatsachen, jede Größe auf ihre Abmessungen, jede Zahl auf ihren relativen Werth zurückführt, so läßt sich nicht verkennen, daß Rußland bis zur gegenwärtigen Stunde noch keineswegs der gewaltige Staat ist, als welcher er gelten will; daß die allgemeinen Abschätzungen seiner Macht die wahre Bedeutung derselben weit übersteigen, und daß jede der beiden deutschen Großmächte selbst einzeln, geschweige denn mit der andern verbündet, den Kampf gegen das Zarenreich nicht zu scheueu hat. Nicht'so also ist die von Osten her uns drohende Gefahr zn deuten, als ob Rußland schon jetzt im Stande wäre, die Existenz eines der deutschen Großstaaten thatsächlich zu bedrohen. Wo es uns zu schaden vermag, kann es dies bis heute weniger direct als iudirect, mehr durch seine politische Kunst als durch seine militärische Kraft; aber wenn die Dinge in Zukunft dcu nämlichen Gang nehmen, den sie seit vierzig Jahren und länger innegehalten, wenn Rußland auch ferner stetig zunehmen sollte, wie es seit Peter l. ununterbrochen zugenommen hat, au räumlicher Ausdehnung sowol, wie an inneren Hilfsmitteln, wenn seine Kriegsmacht noch fernerhin dieselben Fortschritte machen sollte, die sie namentlich unter Kaiser Nikolaus gemacht, endlich wenn seiner Diplomatie ans dem Felde deutscher Politik Meisterstreich auf Meisterstreich glücken dürfte, wie namentlich seit 1848, dann, ich wäge bedächtig das Wort, bevor ich es niederschreibe, dann dürfte die Stunde nahen, in welcher das reelle Uebergewicht deutscher Macht uud Stärke schwinden und Nußland nächst der politischen auch die materielle Obergewalt über uns erlangen mochte.
Um zn diesem lange angestrebten Ziele zn gelangen, haben die Beweguugs- jahre vou 1848 und 49 dem Zaren in derselben Weise gedient, als früher, freilich in noch größcrem Maßstäbe, die französische Revolution und die Eroberungszüge Napoleons die Zwecke seiner Vorgänger förderten. Rußland war auf der Höhe seines Einflusses, als es im Jahre 18S0 sich zwischen die streitigen östreichischen nnd preußischen Interessen warf, mit Energie Partei ergriff uud letzterer Macht gegenüber den oasu8 Kolli feststellte.