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allmälig gebildet, vorliege, sondern als ob der stärkere Wille den schwächern ins Schlepptau nehme. Und hätte nicht der russische Kaiser in seiner ofsiciellen Zeitung diese Veröffentlichung von Seiten Englands provocirt, ja sie gradezu nothwendig gemacht, so hätte wol noch ein Menschenalter vergehen können, ehe man auch'nnr von der Existenz solcher Verhandlungen etwas erfahren hätte. — Die zweite Broschüre scheint von der Absicht auszugehen, die mnthmaßliche Politik Oestreichs in der orientalischen Frage zu vertheidigen. Wir sagen muth- maßlich, denn eö dürfte wol nicht viel Menschen in Europa geben, die sich über das, was Oestreich eigentlich will, eine klare Vorstellung gebildet hätten. Nun konnte es sür unsre eigne Partei nichts Interessanteres geben, als eine klare und offene Zusammenstellung der Motive, von denen die Gegner sich bestimmen lassen, namentlich wenn sie von einem so' geistvollen und in dem Staatsleben so bewanderten Manne ausgeht, als Herr von Ficquelmout. Allein diese Klarheit uud Offenheit ist in der vorliegenden Broschüre nicht zn finden. Die Untersuchung über das Wesen der orientalischen Kirche im Gegensatz zu der abendländischen führt zn einer Reihe anziehender Betrachtungen, gegen die man zwar sehr vieles Erhebliche einwenden könnte, die aber doch an jedem andern Ort zum Nachdenke» anregen würden; nur hier nicht, wo man noch nicht die entfernteste Ahnuug davon gewinnt, was diese ganze Untersuchung mit der vorliegenden politischen Frage zu thun haben soll. So stellt Herr von Ficquelmont eine ziemlich unhaltbare Parallele zwischen dem Protestantismus und dem orientalischen Schisma auf, weil beide die Trennung der kirchlichen Gewalt von der weltlichen aufgehoben hätten, eine Ähnlichkeit,' die dadurch wieder ganz wegfällt, daß im Protestantismus die Scheidung zwischen der Geistlichkeit und dem Laienthum dem Wesen nach wirklich aufgehoben wurde, im Orient dagegen bestehen blieb. Uebrigens sind einzelne Deductionen in der That sehr interessant, z. B. über die Bildung der russischen Nationalreligion, namentlich seit 1812, wo die wunderbare Errettung aus den Händen eiucs mächtigen Feindes Rußland als einen von Gott bevorzugten und prädestinirten Staat in den Angen der Nation erscheinen ließ. Unter dem Einfluß dieser Stimmung erfolgte die Redaction der russischen Gesetzgebung 1822, die in einem Geiste abgefaßt ist, „welcher die Katholiken und Protestanten in confesstoneller Beziehung zu einer absoluten Lähmung verurtheilt, während der russisch-kirchlichen Proselytenmacherei nicht nur der besondere Schutz der Gesetze zugesichert, sondern dieselbe anch durch Einräumung weltlicher Vortheile gradezu aufgemuntert wird." Das alles soll die Möglichkeit erklären, „wie eine dreißigjährige ununterbrochene Wirksamkeit einer derartigen Gesetzgebung jenen Zustand religiöser Uebersparinung habe erzeugen können, dessen Wirkungen sich vor nuscrn Angen entwickeln. Wir haben es hier mit keiner zufälligen, durch eine individuelle Aufregung hervorgerufenen Gereiztheit zn thun. Diese religiöse Ueberspannuug ist für das russische Volk ein natürlicher, fortwährend andauernder Zustand; sie