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Knaben auch nvch außerdem ohne allen Zweck eine ganze Reihe schlechter Streiche aufbürdet. Soweit würden wir allenfalls noch mitgehen, obgleich die einzelnen Umstände schon ans Unerhörte nnd Fabelhafte streifen. Aber nun weiter. Jene Knaben werdeu als' überwiesen betrachtet, den härtesten körperlichen Züchtigungen ausgesetzt und mehre Wochen hindurch auf die Schandbank gesetzt, und wie verhält sich der grüne Heinrich dazn? „Mir war das angerichtete Unheil nicht nur gleichgiltig, sondern ich fühlte eher noch eine Befriedigung in mir, daß die poetische Gerechtigkeit meine Erfindung so schon und fichtbarlich abrundete, daß etwas Auffallendes geschah, gehandelt und gelitteu wurde, und das infolge meines schöpferischen Wortes. Ich begriff gar nicht, wie die mißhandelten Jungen so lamentiren nnd erbost sein konnten gegen mich, da der tressliche Verlauf der Geschichte sich von selbst verstand und icb/hierau so wenig etwas ändern kouute, als die alten Götter am Fatum." — Das ist nicht nur abscheulich, sondern es ist auch durch und durch unwahr. Knaben bringen es zwar in der Ersindsamkeit des LügenS häufig sehr weit; sobald, aber die schlimme Folge ihres Lügeus ihnen sinnlich vor Angen tritt, so regt sich auch iu der wildesten Natnr das Gewissen. Mau erinnere sich an die ähnliche Stelle iu Nonsseaus Bekenntnissen, wo er einen Diebstahl, den er selber begangen, ans ein Mädchen schiebt, das er liebt. Ueber dieses Ereigniß geht Rousseau, was die moralische Würdigung betrifft, zwar mit einer empörenden Frivolität hinweg, aber psychologisch hat er es vollkommen logisch und verständlich entwickelt. Das Gewissen ist zwar nicht immer das bestimmende Motiv d.er Handlungen, aber es ist vorhanden, nud es ist es allein, was den Charakter macht. Durch die absolute Vertiefung iu das Traumreich hat unser Dichter das Gewissen vollständig aufgelöst nnd> dadurch auch die Bildung von Charakteren unmöglich gemacht. Denn wo kein fester Kern des Willens da ist, kann man die glänzendsten individuellen Erscheinungen des Lebens zusammeu- häufeu, und es wird doch nie ein Ganzes daraus. — Mau glaube nicht, daß es mit diesem einzelneu Fall abgethan ist. Das Leben der Einbildung übt auch später seine Macht aus, und wenn wir von den verschiedenen Diebstählcn, die Heinrich als Knabe begeht, vou seiner Uutrene als Liebhaber n. s. w. absehen, so ist eine Geschichte, mit der seiue Jngeudlaufbahn sich schließt, gradezu empörend. Heinrich will Maler werden. Zufällig trifft ihu ein fremder Maler, der sich seiner annimmt nud ihu auf den richtigen Weg der Kunst führt. Gegen diesen, dem er die größte Dankbarkeit schuldig wäre, begeht Heinrich einen Zng so raffinirter schändlicher Undankbarkeit und zwar iu einem vollkommen zurechnungsfähigen Alter, daß wir nicht wissen, ob wir mehr erstaunen oder nns empören sollen. Die alte Sentimentalität der Romanschreiber, die ihre Helden iu Tugend »ud Aufopferungsfähigkeit vollständig auflösen, war zwar im ganzen auch sehr poetisch, allein sie war doch in jeder Weise diesem moderueu Raffinement vorzuziehen, welches ganz ohne ersichtlichen Zweck das Leben derselben durch schändliche