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Zwar ist die Reaction gegen den Geist und die Tendenzen des vorigen Jahrhunderts weit älter, aber sie äußerte sich früher nur prophetisch oder kritisch, Gestaltung gewann sie erst in den dreißiger Jahren. Auch das erste doctrinare Blatt von Bedeutung, das die reactionäre Partei gründete, das „Berliner politische Wochenblatt", verdankt der Julirevolution seine Entstehung. Man mußte sich erst über den Schreck seiner eigenen Gebauten beruhigen, ehe man an die objective Darstellung denken konnte.
Die deutsche Geschichtschreibung, sobald sie überhaupt in die allgemeine Literatur eintrat, war überwiegend protestantisch, aufgeklärt, preußisch, bürgerlich, liberal. Luther, der alte Fritz, Montesquieu und vor allem Voltaire waren Voraussetzungen, die nicht umgangen werden konnten, auch wo mau gegen sie polemisirte. Ju der Form herrschte der Humesche, etwas farblose Pragmatismus, der alle Gegensätze der Zeiten uud Völker abschwächte und lediglich nach den Voraussetzungen des eigneu Zeitalters suchte. Rotteck war der populärste, freilich auch der flachste Ausdruck dieser Bildung uud Methode; Livius, bei dem, abgesehen von einzelnen Traditionen, die sich halb wider Willen in diese römische Hofgeschichte eingedrängt haben, das Zeitalter des Camill und des Haunibal grade so aussieht, wie das Augusteische, das ursprüngliche Vorbild.
Seit dem Anfange dieses Jahrhunderts waren nuu viele Umstäude eingetreten, der Geschichtschreibung eine veränderte Richtung zu geben: 1) der historische Roman, der das Publicum daran gewöhnte, auch in der Geschichte nach colorirtcn Darstellungen, nach Portraits, Costnm, Localschilderungen nnd dergl. zu suchen. Weuu man colvriren. will, muß man die Methode des Pragmatismus aufgeben, man muß sich iu das Material vertiefen und es geben, wie es ist, abgesehen von allen Voraussetzungen der moderneu Bildung und Gesittung. — Z) Die romantische Schule, die unsere Schriftsteller dazn verleitete, „geistreich" zn sein, d. h. ungewöhnliche, frappircnde, paradoxe Gesichtspunkte aufzusuchen. F. Schlegels „Vorlesungen über die nenere Geschichte" (181-1) sind für »ufere Geschichtschreibung ein epochemachendes Bnch. Eö waren darin alle bisherigen Ansichten uud Urtheile anf den Kopf gestellt, man mußte sich darein finden, zu verehren, was man früher verabschent, zn verwerfen, was man früher als das allein Richtige angesehen. Philipp II., Alba, Tilly u. s. w. wurden edle Helden, Heinrich IV., Gustav Adolph u. s. w. Jesuiten; das Hans Oestreich das erste Heldengeschlecht, der Protestantismus, gelinde ausgedruckt, ein unlovarä svent. Je weniger in diesem Buche bewiese» wurde, desto populärer war es; deuu die Stichwörter waren sehr handgreiflich, man konnte anf die bequemste Weise vou der Welt geistreich werden. Dieses Geistreichthnn war die Hauptsache; die katholischen und patriotischen, d. h. antifranzöstschen Sympathien kamen erst in zweiter Linie. Es schien so unaussprechlich gebildet uud tief, im Katholicismus, deu selbst seine Anhänger bisher nur schüchtern vertheidigt, einen erhabenen Inhalt zu finden. Wie wird im