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Ludwig Tieck`s gesammelte Schriften.
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sie ruhig bei Seite gelegt. Man war zu fest davon überzeugt, daß Tieck im Allgemeinen ein großer Dichter sei, als daß man sich die Mühe gegeben hätte, sich seine Vorzüge im Einzelnen anschaulich zu machen. Das ist aber ein ganz verkehrtes Verhalten, und es wäre für unsere Dichter wie für unser Publicum viel nützlicher und verständiger, wenn das letztere sich mit weniger Inbrunst einer blinden und abgöttischen Verehrung überließe, und dafür größeren Eifer auf das detaillirte Studium seines Dichters verwendete. Es sind in Tieck's Novellen so viel interessante psychische und sittliche Probleme behandelt, so viel merkwürdige und eigenthümliche Seiten des Lebens berührt, daß unser Nachdenken und unsere Empfindung fortwährend angeregt wird, und wenn wir auch in den meisten Fällen mit dem Dichter wegen seiner Auflösungen hadern müssen, so wird doch die Lecture nicht ohne Frucht bleiben. Für unsere Dichter wäre dies Verhältniß in sofern viel heilsamer, als sie in lebendigerem Rapport mit dem Volke blieben und dadurch der gefährlichen Einsamkeit ihrer Gedanken entrissen würden, und als auch ihr irdisches Wohlsein sich dabei besser stünde. Wir stellen unsere Dichter wie die goldnen Kälber auf den Altar, und zünden ihnen einen Weihrauch an, der eigentlich uuserm eigenen Kunstsinn gilt; daß sie darüber verhungern können, fällt uns gar nicht ein, denn sie sind ja keine Menschen, sondern Götter. Die armen Götter in ihrer einsamen Höhe! sie werden schwindlich und berauscht von dem Dalai-Lamadienst zu ihren Füßen; sie fühlen sich selbst als Götter und gerathen iu eine halbe Raserei, wenn in dieser Fülle der Huldigungen irgend ein unehrerbietiges Wort an ihr Ohr schlägt, aber es wäre ihnen besser gewesen, sie wären Menschen geblieben und hätten statt des narkotischen Weihrauchs gesunde Nahrung erhalten. Die Engländer machen es anders, sie werfen sich nicht in den Staub vor ihren Götzen, sie errichten ihnen keine Altäre, aber sie kaufen ihre Bücher, und der Dichter lebt unter ihnen nicht wie ein angeräucherter Apollo, sondern wie ein Gentleman unter andern Gentlemen.

Am Interessantesten sind unstreitig diejenigen Novellen, die sich mit der mo­dernen Gesellschaft beschäftige«. Tieck war iu vieler Beziehung dazn befähigt, denn er gehörte mehr als es sonst dem deutschen Dichter gewöhnlich gelingt, der guten Gesellschaft an, er hatte ein scharfes Auge für die kleinen Schwächen der Menschen, die im socialen Leben am Deutlichsten hervortreten, und eine seine Empfänglichkeit für die verschiedensten Formen des Lebens. Diese Darstellungen aus der Gesellschaft stehen seinen früheren romantischen Dichtungen, den Mär­chen und den phantastischen Dramen, nicht so schroff gegenüber, als man an­nehmen sollte. Es lag dem Dichter daran, das gewöhnliche Leben zn vergeistigen, und ihm den poetischen Inhalt, den es wenigstens theilweise früher gehabt, wiederzuerobern. Anch in seiner romantischen Periode war ihm das Mittelalter eigentlich immer nur eiu phantastischer Schimmer gewesen, der die dürre und prosaische Gegenwart verklären sollte. Mit Recht hatte er im Mittelalter jene