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eines veränderten Stimmenverhältnisses kann man bei Nachwahlen für Opposttions- candidaten mit ziemlicher Bestimmtheit als Regel aufstellen; denn zu den bereits angedeuteten Gründen für die Erschlaffung der Majorität treten in diesem Falle noch nene und sehr wirksame Motive hinzu. Daß die Zahl der Personen, denen es völlig gleichgiltig ist, ob sie mit der Polizei und der Regierung auf freundschaftlichem Fuße stehen oder nicht, bei uns sehr gering ist, habe ich an diesem Orte schon einmal hervorgehoben; aber auch da, wo eine Abhängigkeit von den Behörden nicht stattfindet, greift die öffentliche Abstimmung nicht selten in die Geschäftsverhältnisse des Einzelnen störend ein, so daß ein Wahlact in dieser Form auch für viele scheinbar unabhängige Personen mehr eine Unannehmlichkeit als ein Vergnügen ist. Zweimal in kurzer Frist für Oppositionscaudidaten stimmen, scheint hartnäckig nud tendenziös; und es wird für den Einzelnen um so peinlicher, wenn er vielleicht in der Zwischenzeit schon die verdrießlichen Folgen seiner ersten Abstimmung gespürt zu haben glaubt, auch da, wo sie nicht, wie jetzt in Brcslau, durch eine öffentliche Annonce provocirt werden. Solche Betrachtungen geben um so eher deu Ausschlag, wo man sich um einer Sache willen gefährden soll, deren Sieg doch noch immer nicht in Aussicht steht. Das sind die Momente, deren Zusammenwirken den Ausfall der Nachwahlen für Oppositionscaudidaten so zweifelhaft machen, daß ich bei meiner Berechnung der Partei- starke die Doppclwahlen von Oppositionscaudidaten stets nur als einfache in Anschlag brachte. Es ist wichtig, sich dieses Verhältniß ganz klar zu machen, um sich zu überzeugen, daß die Oppositionspartei gerade bei solchen Nachwählen mit ganz besonderer Umsicht uud Energie zu Werke gehen mnß. Unter den Gründen, daß das Stimmcnverhältniß während der verflossenen Legislaturperiode eine so totale Umgestaltung ersnhr, nimmt der Umstand, daß die constitntionelle Partei jene Regel noch nicht klar erkannt hatte, eine vorzügliche Stelle ein. Daß jetzt in Cöln statt Camphansenö der klerikale Kandidat, in Duisburg statt der Herren Kühne und Bethmann-Hvllweg die ministeriellen Kandidaten den Sieg davon trugen, beweist, daß die frühere Majorität von dem zweifelhaften Charakter der Nachwahlen nicht hinlänglich überzeugt war.
In Stelle Neander's ist von dem hiesigen Gemeinderath der Oberconsistorial- ratl), vr. Nitzscb in die erste Kammer gewählt worden. Nitzsch ist bekanntlich das einzige Mitglied des Oberkirchenraths, welches rein und treu an der kirchlichen Union, dem von dem verstorbenen Könige mit so vieler Hingebung und Anödaner geförderten Kriedenswerke, festhält. Er nimmt deshalb in jener Behörde eine isolirte, man möchte fast sagen, blos geduldete Stellung ein; und daß er in ihr überhaupt noch einen Platz behält, ist wol weniger dem Umstände, daß die von ihm vertretene Sache unter seinen Kollegen noch eine zustimmende Auerkenuuug findet, als der Persönlichkeit dieses würdigen und gelehrten Theologen beiznmessen; es schien noch nicht rathsam, schon jetzt und an einem solchen
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