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wünschten wir etwas mehr Realität; die Leute sehn fast durchgängig neu, wie aus einer Theatergarderobe versehen ans: namentlich der Gefangene, der bei dem Herumbalgen, das doch vermuthlich seiner Gefangenschaft vorausging, sein Costum zu sauber erhalten hat; selbst die Bandroscttcn ans den Schuhen sind vollkommen unversehrt. Dergleichen kleinen Zügen sollte Lessing mehr Aufmerksamkeit schenken; sie würden das innere Leben, welches in Ausdruck und Bewegung seiner Figuren liegt, äußerlich zu plastischerer Erscheiunng bringen.
KnauS. Ein Leichenbegängnis). Ein Lcichcnzug kommt durch eiueu Wald, ein kleiner bescheidener Sarg, vor und um ihn einige alte Männer (Cantor, Küster nnd dergleichen) und eine alte Frau, voraus junge Mädchen uud Kuabc». Ein Verbrecher, der von irgend einem Individuum der Landmiliz oder dergleichen transportirt wird, ist in der Enge des Waldweges gezwungen, zu warten, bis der Leichenzug vorbeipassirt ist. Unter den dem Zng vorangehenden Kindern fällt uns vor Allem ein halberwachsenes Mädchen auf, dessen blondes Köpfchen eben so viel reizende Aumuth, als reiue Unschuld zeigt. Der Künstler hat sie absichtlich als Hauptfigur hervorgehoben; während alle Figuren hinter ihr beschattet sind, trifft sie iu der dunkeln Umgebnng schon der volle helle Lichtstrahl, sie sieht scheu uach dem am Wege warteudeu Verbrecher, auf dessen Physiognomie das Gepräge verstockter Bosheit nnd gemeinster Verworfenheit tief eingedrückt ist. Wir kommen auf allerlei Vermuthungen, in welcher Beziehung diese beiden Figuren zn einander, zu dem Todten, der eben hinausgetragen wird, uud zum ganzen Bilde stehen mögen. Wir denken dieses nnd jenes, und Nichts will passen.
Der Grund liegt darin, daß der Maler selbst sich nichts dabei gedacht hat; es lag ihm nur daran, zwei entschieden cvntrastirende Charaktere, das unberührteste, unschuldigste Geschöpf ju der Gestalt jenes Mädchens, und den verwahr- losetsten, corrumpirtesten Bvsewicht gegen einander zn stellen. Was thut uuu das Leichenbegängniß mit allen den lieben Kindern uud singenden alten und jungen Leuten dabei? Der Künstler wird uns die Antwort, schuldig bleiben müssen. Er mochte uns den ganzen Leichenzug geben; dann mußte aber der Verbrecher am Wege wegbleiben, der nichts mit ihm zu thun hat, als auf ihn zn warten. Herr Knaus hat uns Figuren zusammengestellt, und zwar vortreffliche Figuren, aber er hat die in ihnen enthaltenen Motive nicht in einen künstlerischen Zusammenhang zu bringen gewußt. Er weiß nicht oder er hat es vergessen, daß ein Kunstwerk aus einer Idee von innen heraus geschaffen werden muß, nicht aus Motiven, die, wie im Leben, znfällig neben einander stehen. Gerade einem so höchst talentvollen Künstler wie Herrn KnauS wünschten wir, daß er diesen ersten aller künstlerischen Grundsätze beherzige, da er dann Außerordentliches zn leisten vermöchte. Herr Knaus besitzt ein Talent, Physiognomien aufzufassen, das uns auch in diesem Bilde bei jedem einzelnen Kopfe uud jeder Gestalt von neuem