Rudolph Gottschall und die deutsche Lyrik.
In den neuen Compeudien der Literatur finden wir fast ohne Ausnahme die Ansicht ausgesprochen, daß wir zwar in den anderen Gebieten der Dichtkunst seit Gvethe und Schiller keine erheblichen Fortschritte gemacht, daß wir aber in der Lyrik jeue Zeit bei weitem überflügelt hatten. Wir haben schon öfters die entgegengesetzte Meinung vertreten. Wir geben gern zu, daß in kleineren Gedichten sehr viel Gutes geleistet ist, obgleich wir doch kein Lied von Uhland oder Heine wüßten, das wir etwa Goethe's Fischer an die Seite setzen konnten; aber iu größeren lyrischen Gedichten, iu Gedichten von laugathmigcr Inspiration, wie etwa Goethe's Braut von Kvriuth, AlexiS uud Dora, Bürger's Leuorc, Schiller's Götter Griechenlands, die Künstler u. s. w., köuucn wir nicht finden, daß die neuere Zeit etwas Lvbcnswcrthes prvducirt hätte; uud iu solchen größeren Schöpfungen offenbart sich doch auch iu der Lyrik vorzugsweise die Kraft der Poesie.
Was die Dichter der ueueu Schule vou uusrcu älteren Lyrikeru unterscheider, ist, daß sie niemals bei der Sache sind. Dies „bei der Sache sein", was man gewöhnlich mit dem lateinischen Namen Objectivität bezeichnet, scheint uns aber bei der Kunst die Hauptsache. Es ist in der Malerei eben so. Der Künstler kann die brillantesten Farben und Linien anwenden, sie werden keinen Eindruck macheu, weun sie nicht der Sache angemessen sind, nnd wenn sie die Einheit der Stimmung stören. Fast in keinem Zweige der Kunst wird aber die Abweichung von diesem Gesetz so in's Große getrieben, als in der Lyrik. Man gebraucht den Gegenstand fast lediglich dazu, eine Reihe brillanter Bilder, Reflexionen, Gefühle daran anzuknüpfen, ohne sich im geringsten darum zu kümmern, ob sie in irgend einem Verhältniß zum Gegenstand stehen. Daraus ergiebt sich in. Beziehung auf die Form eine vollständige Slyllosigkeit, in Beziehung ans den Inhalt ein breites coquettes Verweilen bei Nebensachen uud eine leichtfertige Hast in der Darstellung der Hauptsache, endlich in Beziehung auf die ideale
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