Der vaterländische Roman.
Die Frage, die man zuweilen aufgeworfen hat, ob der historische Roman überhaupt eine Berechtigung im Gebiet der Poesie habe, ist im Grunde eine luüszige. Daß er zu einer niedrigern Kunstgattung gehört, als diejenigen Zweige der Poesie, die ein freies Schaffen erlauben und fordern, dürfte wol kanm in Zweifel gestellt werden, eben so wenig, daß es immer ein mißliches Unternehmen bleibt, die Phantasie in Geschichten-einzuführen, die eigentlich der Gelehrsamkeit anheimfallen. Aus der andern Seite ist es aber wieder nicht zu läugncn, daß für das Festhalten einer großen Vergangenheit die Geschichtschreibung nicht vollständig ausreicht. Sobald sie versucht, eine Totalanschanung von dem Zeitalter zn geben, unt dem sie sich beschäftigt, eiue Anschauung, die sich auf alle Kreise des- öffentlichen und Privatlebens gleichmäßig erstreckt, wird sie in Gefahr kommen, von ihrem eigentlichen Zweck abzuweichen; jedenfalls kann sie Culturzustände nur in allgemeinen Uebersichten, nicht in der Form einer lebendigen Erzählung gebeu. Hier bleibt dem historischen Roman ein angemessener Spielraum. Er ist im Staude, auf frühere Forschungen gestützt, uns die Sitten des vergangenen Zeitalters nach allen Richtungen hin neu zu erschaffen, und daß daraus Werke hervorgehen können, die auf Phantasie und Gemüth wenigstens annäherungsweise denselben Eindruck hervorbringen, deu eine freie Schöpfuug macht, hat gleich das Beispiel des Erfinders dieser Kuustgattnug auf eine glänzende Weise dargethan.
Allerdings ist Walter Scott anch ziemlich allein geblieben. Von der unendlichen Zahl historischer Romane, die bei allen Völkern sein Vorbild hervorgerufen hat, ist kein einziger, der seinen besseren Werken an die Seite zu stellen wäre; ia selbst diejenigen, die nur mäßige Ansprüche befriedigen, würden sich zählen lassen; und zwar gilt das von den Versuchen der Engländer nicht minder, als von denen der Deutschen, Franzosen, Italiener, Polen, Russen, Ungarn u. s. w.
Für die Deutschen müßte die Aufgabe eigentlich noch viel lockender sein, als sür irgend ein anderes Volk; denn wir haben zwar im Allgemeinen ein ziemlich lebhaftes Nationalbewußtsein, aber es fehlt uns die Bestimmtheit, auf die wir
Grenzboten. III. -I8SI. <Z1