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der Seele und im Gewissen der dargestellten Charaktere, und zwar nicht, wie es im Mittelalter der-Fall gewesen war, durch einzelne wunderbare Erleuchtungen, sondern in einer regelmäßigen, dem Gefühl vollkommen verständlichen Continnität.
Nun ist es allerdings möglich, das Princip des Gewissens eben so zu übertreiben, wie jedes andere richtige Princip. Bekanntlich ist in der neuern deutschen Philosophie die Bedeutung des Gewissens so überschätzt wordeu, daß man nicht blos die ganze moralische, sondern auch die ganze intellccttrelle Welt daraus herleiten wollte. So ist es auch Shakespeare z. B. im Hamlet ergangen. Der Gedanke, daß das Gewissen aus uns Feige macht, und der angeborenen Farbe der Entschlossenheit des Gedankens Blässe ankränkelt, ist allerdings auch der Gegenstand dieses Drama's, den der Dichter objectiv darstellt, über den er sich also gewissermaßen erhebt. Aber diese Idee ist anch in dem Geist des Dichters selbst und macht ihn befangen, und während wir die Anlage der Handlung, den Conflict zwischen den verschiedenen Aeußerungen des Gewissens vollkommen verstehen, läßt uus der Dichter bei der weiteru Entwickelung im Stich. Wir bewegen uns in einer räthselhasten Dunkelheit; wir können uns wol über die Motive noch Ahnungen und Muthmaßungen bilden, aber wir sehen sie nicht mehr. Diesen Umstand haben die modernen Kritiker, welche den Hamlet vollständig zu begreifen glaubten, aus deu Augen gelassen, während das gewöhnliche Publicum, das sich für das Drama enthusiasmirt, darin nichts weiter sieht, als eine Reihe von Effectscenen, an denen ein begabter Schauspieler seine Virtuosität zeigen kann.
Wenn Shakespeare im Hamlet sein eigenes Princip übertrieben hat, so ist es seinen Auslegern auf eine ganz ähnliche Weise ergangen. Die jungen Dichter aus dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts staunten in Shakespeare die Freiheit, die Regellosigkeit, in gewissem Sinn die Unbegreiflichkeit an, wie man in früheren Zeiten des Christenthums Gott nur dann anbeten zu können meinte, wenn mau ihn als den äeus adsconclitus zu scheuen hatte. In neuerer Zeit ist man zu der ganz richtigen Erkenntniß gekommen, das höchste Geheimniß sei das offenbare. Man hat in der modernen Speculation den lieben Gott bis in's kleinste Detail begriffen, nnd eben so hat man bei Kunstwerken nachgewiesen, daß Alles so sein mnßte, wie es ist. Man hat aus dieser löblichen Absicht den Dichter» wie dem lieben Gott Gewalt angethan, und zwar ist das Ulrici eben so widerfahren, wie Gervinns. In der richtigen Erkenntniß von der weisen Fügung, die der Dichter in dem Verhältniß zwischen dem Thun uud Leiden seiner Helden walten läßt, hat er mitunter bei dem Aufsuchen einer geheimen Schuld, die dem Schicksal entsprechen müsse, ein so scharfes Mikroskop angewendet, daß er Dinge gesehen hat, die gar nicht da waren. Namentlich leicht skizzirten Figuren, die der Combination freien Spielraum gabeu, z. B. der armen Ophelia, Cor- delia:c., ist das Schlimmste nachgesagt worden. Den richtigen Grundsatz, daß bei einem Kunstwerk von gutem Styl das Eintreten des Schicksals der Natur-