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Wochenbericht.
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zu thun, während man in allem Uebrigen ihnen keine Geistesstörung anmerkt. Andere haben übertriebene Besorgnisse vor Diebstahl/ durchlaufen des Abends sämmtliche Räume des Hauses mit Licht, verschließen selbst alles sorgfältig, halten Waffen zur Abwehr bereit, umstreichen des Nachts mit geladenem Gewehr das Haus, schießen auch wol zuweilen ab, um die Diebe zu erschrecken, weigern sich Abgaben zu bezahlen, weil sie sich übervortheilt glauben, wähnen sich von ihren Dienstlcuten betrogen, schelten sie ohne weiteres als Diebe, wenn sie selbst etwas verlegt haben, wollen ihnen nichts oder nur wenig oder schlechtes zu essen geben, keifen und' schmälern den ganzen Tag, oder sind bald wieder vertraulich mit ihnen. In ihrem häuslichen Kreise sind sie eisersüchtig oder haben eine Abneigung gegen Gatten oder Kinder. Ein Mann, der gesund, wegen seiner großen Liebe zu Frau und Kindern bekannt war, verlor allmählich seine Neigung zu Allem so vollkommen, daß er sagte:er würde sie vor seinen Augen auf der Schlachtbank sehen können, ohne daß er nur die geringste Traurigkeit empfände/ oder auch nur die Neigung sühlte, vom Stuhle aufzustehen, um sie zu beschützen." Andere suchen die Bibel und das Gesangbuch aus, gehen häufig in die Kirche und vernachlässigen darüber die Weltlichkeit, die ihnen sonst nicht fern lag.

Eine andere Reihe von Erscheinungen eines derartigen Gehirnlcidens, wie es das Jrrsein begleitet, umsaßt diejenigen, die als körperliche zum Vorschein treten. Hierher gebören alle die, welche dem Bereiche der Sensibilität zufallen. Vor Allem ist der Kopsschmerz, der selten fehlt. Bald ist er stetig, bald läßt er nur nach, bald intcr- mittirt er; bald ist er halbseitig, bald in der Scheitelgegend, bald in der Stirn, bald im Hinterhaupt?, bald verbreitet er sich über den ganzen Kopf. Er ist dumpf, klopfend, reißend, stechend, umschrieben oder er erregt die Empfindung, als ob Etwas im Kopfe von der einen Seite nach der andern, von vorn nach hinten wolle, -als ob ein Ge­wicht im Kopfe wäre, als ob der Schädel platzen, die Nähte zerreißen, oder das Gehirn zu den Augenhöhlen herausdrängen wolle. Er beeinträchtigt oder erhöht die Aufmerk­samkeit, und ist von Hitze oder Wallungen des Blutes nach dem Kopse begleitet. Die Sensibilität der Sinne ist verstärkt oder vermindert und die leisesten Geräusche, die zartesten Farben erscheinen grell oder berühren in einer scheinbar veränderten Gestalt den Sinncsnerv. Bald starrt das Auge tränmcrisch vor sich hin, bald blickt es unsicher umher, bald ist es stechend, bald der Blick wechselnd oder unruhig, bald sieht es doppelt und ist von einer unregelmäßigen Thätigkeit der benachbarten Mnskeln begleitet. Flüch­tige Schauer und fliegende Hitze wechseln nicht selten bei acutcm Verlaufe mit einander ab. Oder der Kranke hat das Gefühl einer Angst, die das Athmen erschwert und den Kreislauf stört, und später die verschiedenartigsten Vorstellungen bedingt. Alle diese Erscheinungen kommen mehr oder- weniger zum Vorscheine, können Jahre lang vorhergehen, auch ganz wieder verschwinden, ohne daß eS zum Ausbruch des Jrrseins kommt. Je länger der Verlauf, desto geringer pflegen die Erscheinungen zu sein und desto weniger werden sie erkannt, weil die bestimmten Momente der Aufmerk­samkeit entgehen, weil die Umgebung sich an den allmählichen Verlauf gewöhnt und die Folgen nicht erkennt, und weil Einzelheiten äußeren Umständen, launenhaftem Wesen, kränklicher Reizbarkeit u. s. w. zugeschrieben werden.

Herausgegeben von Gustav Freytag und Julian Schmidt. Als verantwort!. Redacteur legitimirl: F. W. Grunow. Verlag von F. L. Hering

in Leipzig. Druck von C. E. Elbert in Leipzig.