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Wochenbericht.
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eine Heuchelei v^r Affccten, die uns widerwärtig berühren, weil sie aus falscher Leiden­schaft und mangelnder Vernunft' entspringen. Man hat sich daran gewöhnt, tragische Stellen mit übergroßem Aufwand von contrapuuktischcn, harmonischen und instrumen­talen Mitteln darzustellen, nimmt sich aber nicht die Mühe, die vernunftgemäßen Unter­scheidungen zu beachten. Daraus entsteht die unsrer Oper anhaftende Eintönigkeit und Langeweile. Die Kunst des Dialogs im geschlossenen Satze, die bei Mozart und Cheru­bim, theilweise auch bei Weber und Marschncr in so vollendeter Weise auch in der »per» ssriil sich findet, cxistirt gar nicht mehr. Sie ist freilich ein Prüfstein des Ver­standes und der Gewandtheit eines Componisten und setzt größere Kenntnisse voraus, als den vollständig erlernten Contrapunkt und nebenbei die Bekanntschaft mit Romanen und einige» Bänden der neueren Lyriker. Die Begleitung ist hier das secundärc Element, sie soll nur in kurzen, charakteristischen Strichen die Stimmung der Scene andeute», nicht aber so sehr vorwalte», daß die declamationswcise gehaltene Stimme des Sängers zurückdrängt und diesen durch ihr kunstvolles Uebergewicht an der Deutlichkeit hindert, die dem Verständnisse der schnell vorübergehenden Scene so wesentlich ist. Die vor­liegende Oper leidet voni Anfange bis ans Ende an diesem Mangel. Der schwülstige in ungeschickten Wendungen abgefaßte Text ist überhaupt nicht günstig, eine freie Be­wegung in der Komposition, zu gestatten; doch würde dieser Uebelstand nicht hindcr», eine annähernde Deutlichkeit zu erreichen. Da tritt aber die so sauer bereitete Musik hinzu. Der Sänger muß zurücktreten, denn es ist schwer für den Einzelnen, mit Legionen von Geigen, Klarinetten und Posaune» zu kämpfen. Das Publicum hört das musikalische Geräusch, und wenn die Scene endlich vorüber, so schauen sich die bestürzten Gesichter fragend nn: was ist geschehen? Es ist eine falsche Eitelkeit, auf Kosten der Worte und der Handlung die Virtuosität der Compositiou i» den Vorder­grund zu stellen. Dcssauer's Oper enthält eine große Anzahl Stellen, wo keine Ver­schmelzung der neben einander stehenden Gewalten zu bemerken ist. Sehr oft verletzt uns das angestrengte Ringe», geistreiche Begleitung hervorzubringen; noch unangeneh­mer ist eine andere Unsitte, die nicht blos hier, sondern in den meiste» der neueren Er­zeugnisse sich eingebürgert, einzelne kleine Sätze nnd sogar einzelne Worte mit harten, grellen Zeichnungen auszudrücken. Dieses Arbeiten ins Kleine entspringt aus falschem Eifer uud dem Unvermögen, die Totalität einer Scene richtig zu durchdringen. Das schöne Ebenmaß der Eüscmblestücke der älteren Opern dürfe» wir immer noch als Richt­schnur anerkennen. Die Versuche der Neuern, von diesem Wege, den nur sehr lange Erfahrung, und reifliches Nachdenken finden ließ, abzuweichen, blos um sich der Wollust hinzugeben, Neues uud Unerhörtes gefunden zu haben, haben »och nicht viel nach- ahmuugswürdjge Beispiele geschaffen. Die Grundsätze der. Kunst lassen sich nicht be- > licbig umtausche».

Die Behandlung der Einzelstimmen ist in Dessaner's Oper eine brillante, aber dennoch, eine unwirksame. Zwar hat Paquna, die erste Sopranpartie, die einzige, wirklich hervortretende Rolle, alle Anstrengung nöthig, um' ihre» Part mit ungcschwäch- ter Kraft zu vollenden, es fehlen ihr auch uicht die glänzende» Abgänge, nämlich Cadcnzcn und die üblich gewordenen hohen Töne am Schlüsse der Musikstücke und ihres Abtretcns von der Scene. Doch diese Aeußcrlichkcitcn reichen nicht aus, denn es fehlt allen ihren Melodien die Wahrheit der Empfindung uud die edle Leichtigkeit der Be­wegung. Sie ist im unaufhörlichen Kampfe mit den Orchestcrmassen, und wen» ihr von

Grenzboten. III. 30