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Wir glauben etwas Praktisches und dem Augenblick Angemessenes vorzuschlagen, wenn hiermit wir Unbekannte wie Bekannte ersuchen, ihren Blick abwendend von dem jähen Abgrunde des ganzen Werks, an den wir unser Auge gewöhnt haben, immer nur den Buchstaben, der zunächst erscheinen muß, ins Gesicht zu fassen, auffallende, bedeutsame Wörter daraus zu sammeln, und nach unsrer Weise ausgezogen, auch durch Citat beglaubigt, wo thunlich aus kleinen Zettelchen, allmählich und mit dem ganzen Wörterbuch vorschreitend an uns gelangen zu lassen."--
In der neuern französischen Novellistik find uns einige Curiosa aufgcstoßen; zunächst ein wunderlicher Einsall von dem jungen Alexander Dumas, mit dem Titel: „KvvenWs". In dieser Caricatur eines Romans treten die Helden aus den Haupt- evangelien der sentimentalen Periode, die man lange beseitigt glaubte, wieder auf, treten zu einander in Verhältnisse, und wechseln ihre Rollen. Paul und Virginie, Werther und Lotte, Manon Lcscaut und ihr getreuer Ritter de Grieux finden sich in Braunschweig zusammen, wo auch Goethe, so wie ein Freund Bernardin's dc St. Pierre sich der Gesellschaft anschließen. Virginie ist nicht ertrunken, sondern hat ihren Paul geheirathet, Werther hat sich nicht erschossen, sondern hat Lotte entführt, und die gute Manon. ist .nicht dcportirt worden. Aber sie werden zum zweiten Mal umgebracht. Der Ritter erschießt sich an Stelle Werther's aus Liebe zu Virginie, Lotte wird in Paris, wohin sie geflüchtet war, von Albert der Polizei übergeben und in eine Strafcvlonie dcportirt, und Manon ertrinkt an Stelle Virginien's. — Ein neuer Roman von Eugen Sue, „Fernand Duplessis", kehrt wieder zu den alten sentimentalen Problemen des Arthur und der Mathilde zurück, obgleich einige demokratisch-socialistische Reminiscenzen aus dem ewigen Jnden und den Mysterien mit unterlaufen. — Ein gewisses Aufsehen hat ein Roman von Paulin Niboyet gemacht: eliimsre". Die Schilderung eines Blasirtcn, der nach der alten romantischen Theorie ein Genie ist, weil er keine Ordnung uud kein Maß kennt, der fortwährend gähnt, mit Hamlet'scher Ironie alle sittlichen Verhältnisse zersetzt und über seine frivolen Empfindungen ein Tagebuch führt. Er glaubt an die Liebe nicht mehr, weil er von derselben eine allzu poetische Vorstellung hat. „Lieben, sagt er, heißt Feuer im Herzen haben, ein Feuer, welches Alles reinigt, selbst die Stirn der Courtisane, welches langsam das Herz frißt, das es entzündet hat, welches sich selber verzehrt, wenn es nicht in einer Feuersbruust ausbricht. Lieben heißt ein Weib anbeten trotz ihres Schmuzcs, trotz ihrer Treulosigkeit, trotz ihrer Schande, trotz Allem. Dagegen ein junges, reines Mädchen nehmen und ihm einen Cultus in seinem Herzen aufrichten, das will ja gar Nichts sagen, das kann ja Jeder thun!" Diese liebenswürdigen Ansichten über das Menschenleben finden ihre Ergänzung in den Ansichten'einer gleichfalls blasicten Dame, die sich unter Anderem folgendermaßen äußert: „Ich habe keine Freude mehr, als wenn ich cin juugcs Leben zu meinen Füßen sehe, das ich mit einem Lächeln unterwerfen, seines Stolzes berauben, entehren uud nachher ohne Barmherzigkeit mitten in die Welt zurückschleudern kann u> s. w." Nachdem die beiden würdigen Menschenkinder längere Zeit ans eine ähnliche Weise mit einander vlnlosophirt haben, verlieben sie sich in einander uud leben in rührender Unscbnld wie Philemon und Baucis bis an ihr seliges Ende...— Was an dieser ftivolcn Blasirtheit am widerwärtigsten ist, ist ihr sieches und kraftloses Wesen, das nicht einmal mit dem Laster Ernst macht..
Herausgegeben von Gustav Frcytag uud Julian Schmidt. Als verantwortl. Redacteur legitunirt: F. W. Grunvw. — Verlag von F. L. Herbig
in Leipzig. . ^ Druck vou C. E. Elbert in Leipzig.