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Charakterbilder aus der deutschen Restaurationsliteratur : Eduard Mörike.
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giebt es viele recht interessante Charaktere, an denen Vieles für uns incommen- surabel ist, und die über sich selber auch wol uicht ein klares Bewußtsein haben. Wenn es also blos Aufgabe der Kunst wäre, die Wirklichkeit nachzubilden, so konnte man annehmen, die neuere Poesie habe durch den Reichthum an auffallen­den subjectiven Beobachtungen, durch die Schärfe uud das Raffinement der Analyse bedeutend gewonnen, aber der Dichter soll im Gegentheil klar macheu, was im Le­ben unklar ist; er soll sich nnr dann an ein Problem wagen, wenn er die Natur desselben vollständig durchschaut, uud uns zu einer hohem sittlichen Vorstellung zu erheben weiß. Im Räthsel stehn zn bleiben, ist gegen den Sinn der Knust.

Mörike steht in -der Mitte zwischen den beiden Irrationalitäten, deren eine der Restanrationsperiode, die andre der jungdeutscheu Literatur angehört. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß mau sich iu der Goethcscheü Kunstperiode mit Andacht, Ehrerbietung und Scheu den Mysterien nahte, die man iu der jungdeutscheu Zeit mit -einer gewissen Frechheit dem Allgemeiugefühl entgegenwarf. Die Räthsel, die in den Wanderjahren oder bei Arnim, bei Justinus Kerner, bei Brentano, zuweilen bei Kleist mit ahnungsvollen Schauern in das Alltagsleben hineinbrechen, stellen sich als der Abglanz eines höhern, eines überirdischen Lichtes dar, das uns zwar schreckt, weil wir es mit unsren Sinne» nicht fassen können, das uns aber zugleich mit dem Gefühl einer gewis­sen Ehrfurcht durchdringen soll. Die Nachtseite dagegen, die nns die Neuern zeigen, ist infernalischer Natur, sie zieht das Geistige iu das dunkle Gebiet der untergeordneten Physik herab. Freilich ist der Gegensatz uur subjectiv, denn was über dem Menschen oder was unter dem Menschen steht, ist, wenn es sich in das Geistige drängt,, ziemlich desselben Inhalts; aber dieser subjective Gegeu- scitz macht sich wenigstens in der künstlerische» Stimmung fühlbar, und hier kann man nicht sagen, daß die neuere Zeit seit Heine ei»e» Fortschritt enthält.

Mörike steht zwischen diesen beiden Extremen, d. h. man erfährt bei ihm nicht, ob sein Dämonisches göttlicher oder teuflischer Natur sei. , Dadurch wird freilich die Verwirrung auf die Spitze getrieben, und zuletzt konM man sich vor wie jener Minister in der Gräfin Dolores, der nach langer Abwesenheit aus sein Schloß zurückkehrt, und durch die seltsame Art, mit der ihn seine verlassenen An­gehörigen empfangen, befremdet wird, bis er endlich zu der Vermuthung kommt, es seien lauter Gespenster, und sich im Stillen aus dem Staube macht. Wir wisse» zuweilen nicht, ob wir träumen oder wachen. Aber dieser Mangel ist doch nach einer andern Seite hin ein Vorzug, deuu er bewahrt vor Einseitigkeit. Der Dichter geht offen und ehrlich auch iu seiuen Vcrirrungen zu Werke, er hat keine versteckte Tendenz, und das ist eben das Anziehende an dem Buch. Wir haben fortwährend neue Zuge tiefer, intensiver Wahrheit, die uns für den mangelhaften Organismus des Ganzen entschädigen, nnd wo der Dichter aus seinem Raffine­ment heranstritt, wo er sich z. B. iu bestimmte, namentlich künstlerische An-