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Charakterbilder aus der deutschen Restaurationsliteratur : Karl Zimmermann.
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eine Barbarei begeht, im Uebrigen ein ausgezeichneter und verdienter Mann war, kann uns nicht bestechen. Wenn trotzdem seine Handlungsweise mit unsrer Vorstellung von einem großen und edlen Charakter in Einklang gesetzt, wenn sie unsrem persönlichen Gefühl verständlich gemacht werden soll, so kann dies nur dadurch geschehen, daß der Dichter ihn idealisirt, d. h. daß er unser Be­wußtsein über die Berechtigung seines Charakters im Verhältniß zu seiner Zeit und seiner Bestimmung, das auch leidenschaftliche Uebertreibungen entschuldigt, weil in ihnen zugleich seine Stärke liegt, in das Bewußtsein des Helden ver­legt; dadurch wird aber weder der Geschichte noch dem Drama gedient. Ans eine ganz ähnliche Weise hat Laube in seinemPrinz Frie'drich" und in seinen Karlschülern" historische Urtheile zum Schaden der innern dramatischen Wahr­heit anticipirt. Wenn der Herzog von Württemberg den jungen Dichter, der sich nicht seinen pedantischen Regeln fügen will, verfolgt, und wenn König Friedrich Wilhelm I. seinen großen Sohn als Empörer gegen die Subordi­nation auf das Schaffst schicken will, so wird unser natürliches Gefühl dadurch empört und steht ganz entschieden auf Seite des Genius, auf Seite des Ver­folgten. Nachher kommt allerdings die Verstandesreflexivn hinzu, uud wir sagen, uns, daß auch die andere Seite ihre Berechtigung hat, daß die eiserne Zucht, die strenge, fast pedantische Gesetzlichkeit eines Friedrich Wilhelm 'nothwendig waren, nm einen im Werden begriffenen Staatsorganismus zu cvnsvlidiren, und daß, wenn wir diesen Geist im Ganzen als nothwendig begreifen, wir auch seine Folgen im Einzelnen ertragen müssen. Das alles ist ganz richtig. Aber wenn wir dann weiter gehen, wenn wir dem strengen Vater ein Bewußtsein über sei­nen Berns verleihen, und ihn den einzelnen Fall mit kalter Reflexion unter die allgemeine Regel subsumiren lassen, so heben wir dadurch die Wahrheit auf, ohne daß diese Fiction unsrem Gefühl zu Gute kommt. Denn wenn eine leiden­schaftliche Natur, die im Ucbrigen an ihrem Platze ist, im einzelnen Falle zu roher Gewaltthat verleitet wird, so müssen wir das gelten lassen; wenn aber die Rohheit aus einer philosophischen Reflexion hergeleitet wird, wenn der Held mit weinenden Augen seine Grenelthat begeht, weil er es für^scine Pflicht hält, so werden wir empört, und mit Recht, denn der kategorische Imperativ ist uupoetisch und vorzugsweise undramatisch, weil die Poesie nur an der Totalität des Men­schen, nicht an Abstractionen ihre Frende haben kann. Wenn also Jmmcrmann seinen Peter den Großen in seinen Formen hnmanisirt und alle Spuren seiner wilden, halbbestialiscken Natur sorgfältig ausgetilgt hat, so ist diese Metamor­phose nur ans den Verstand, nicht ans das Gefühl berechnet. Wir können die Empfindung,nicht los werden, daß die hohe Verstandes- uud Gefühlsbildung des Helden, die sich zuweilen bis zu Snbtilitäten versteigt, der naturwüchsigen rohen Kraft seines Handelns widerspricht. Denselben Fehler haben wir an den neuesten englischen Dramatikern gerügt, die gern den Charakter eines Hamlet Grenzboten. II. 1862. 27