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allgemeine Krankheit ist, hatte auch Michclet ergriffen, und statt, wie es in seinem Interesse und wie es auch seine Pflicht gewesen wäre, die Zukunft seiner Jünger für seine Grundsätze zu gewinnen, begnügte er sich mit dem vorübergehenden Bcifalle eines augenblicklichen ThcatcrcrfolgS, wie der erste beste Schanspicler auch. Die Wirkung konnte eben keine nachhaltige sein, uud Michclet mag das Bewußtsein mit sich von der Kanzel nehmen, daß die meisten seiner eifrigsten Zuhörer später in den Reihen seiner Gegner kämpften.
Es wäre freilich ans der andern Seite zu ungerecht, die Lehrer der Jugend allein verantwortlich machen zu wollen für die Charakterlosigkeit der Franzosen, mit welcher sie jetzt auf so überraschende Weise austreten. Diese Charakterlosigkeit muß im Charakter liegen, wenn auch nicht geradezu im Charakter der Franzosen, doch in jenem der genußsüchtigen bessern Gesellschaft. Der Charivari mag spottend und parodirend rufen: risn nv m'giraeliörg mon trsilsmeiü, oder Salvaudy mag blos einen Witz machen wollen, indem er sagt: il n'^ s qu'uno seule liäölitö VN I?lgnev> Is üäölitö sux traitLmiZiü8,' Beide haben eine bittere Wahrheit, die Lösung jenes widrigen Räthsels ausgesprochen, das die gegenwärtigen französischen Verhältnisse bieten. Die Stcllen- jägerci ist wahrhaft epidemisch geworden, und wer nicht auf der Börse in der erhöhten Geschäftstcmperatur seine Ncchuung zu finden hofft, der sucht bei irgend einem Ministerium, bei irgend einer Präfectur eine Sinecure. Wer jetzt die Gespräche der sogenannten gebildeten Gesellschaft mit anhört, der muß glauben, Frankreich beherberge eine Nation von Bettlern, welche zu Louis Bouaparte um ein Almosen zu flehen wall- sahrtet. „Gregor, wie geht es unsrem Freunde N. N., hat er sein Amt behalten? ist er cwancirt?" oder „wie kommt es, daß uoch kein Amt bekommen?" In einer Abendgesellschaft, die aus lauter Feinden der gegenwärtigen Regierung zusammengesetzt war, hörte ich einen sehr bekannten Politiker sagen: „Nein, die Unverschämtheit unsrer Generation geht zu weit, da haben Sie den U, der mit mir die äövKvWev des Prä-, sidcntcn ausgesprochen, und nun läßt er sich jetzt fchon durch ein einträgliches Amt kirre machen, das ist wahrlich schlechter Geschmack. Glauben Sie, ich könnte mir meine Opposition nicht auch verzeihen machen? Aber welch anständiger Mensch wird solche Eile bezeigen: ,,vs ssrait cle wimvsis ßoüt," Glauben Sie aber ja nicht, daß ich nach dem Beispiele jenes englischen Tonristen, der, als er in seinem Hotel einen rothhaarigcu Kellner gesehen, in sein Tagebuch schrieb: in der Stadt N. N. haben alle Leute rothe Haare, vou, wenn auch zahlreichen, Ausnahmen auf das Ganze schließe. Was ich über die Habsucht und Stcllcnjagcrci des modernen Frankreichs sage, das ist die Allgemeinheit, und die Uncigcnnützigkcit gehört zu den Ausnähmen. Die Geschichte des bona- partistischm Eides beweist dies deutlich, und von sämmtlichen Advocaten hat bisher blos Einer, Martin von Straßburg, den Eid verweigert. Von allen Beamten der regierenden Civilisten kein Einziger. Uano vevism äsmus xslimusizuö vioissim, und es ist so herkömmlich, auf eine Kleinigkeit, wie , der Eid ist, Nichts zu geben, daß im Bewußtsein der französischen Gesellschaft sich blos die Regierung lächerlich macht, welche den Eid verlangt. Von Frauz Arago, welcher Dircctor des Pariser Observatoriums ist, und bekanntlich Mitglied der provisorischen Regierung gewesen, erwarteten seine Freunde, daß er Ehrgefühl und Achtung genug für sein graues Haar besitzen werde, den vorgeschriebenen Meineid zu verweigern. Fragen Sie nun den Einen oder den Andern, was der berühmte Astronom, der allgemein geachtete Mann endlich doch thun