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für die Kunst, denn das häusige Eintreten einer fremden Erscheinung bringt auch im besten Fall einige Verirrung in die Gewohnheit des Zusammeuspicls, was bei dem Thater doch die Hauptsache sein sollte. Allein man kann es .weder dem Publieum verdenken, wenn es eine Erscheinung, von deren Rubm von fern her der Ruf zu ihm gedrungen ist, selber genießen will, und für diesen Genuß Preise bietet, die, wie die Zeiten einmal stehen,, ihre Wirkung nicht verfehlen können; noch kann man cS der Sängerin verargen, wenn sie sich das glänzendste Gefühl, das ein Weib erringen kann, Europa und Amerika zu ibrcn Füßen zu sehen, nicht versagt. Zudem gleichen sich die üblen Wirkungen wenigstens thcilweise wieder aus. Die Leistungen unsrer meisten Theater sind doch höchstens Mittelgut, und das Publieum wie die Darsteller selbst bedürfen vou Zeit zu Zeit einer äußerlichen Auffrischung, wenn sie nicht dem Schlendrian verfallen sollen. Eine Erscheinung wie Henriette Sontag geht nicht ohne bleibende Wirkung vorüber. Man gewöhnt sich an einen höhcrn Maßstab der Kunstleistungen, und wenn dieser auch für den ersten Augenblick eine gewisse vornehme Blasirtheit hervorbringt, so regt er doch immer die Künstler zu einem stärkern Anspannen ihrer Kräfte an. In vielen Fällen werden sie erst durch eine solche Darstellung zum Verständniß ihrer eigenen Rollen gebracht. '
Bei Henriette Sontag ist das Letztere in hohem Grade der Fall. Wir fassen daher diese Seite ihrer Leistungen zuerst aus. Gewöhnlich erniedrigen die Virtuosen die Kunstwerke, in denen sie auftreten, zu, bloßen Vehikeln ihres Talents. Wer das Glück hatte, Henriette Sontag in der Rolle der Susanne zu hören, wird fühlen, daß davon hier keine Rede sein kann. Sie hat sich, einzelne sehr geschmackvolle uud ganz im Geiste Mozarts gedachte Ausweichungen abgerechnet, streng an das Gegebene der Musik gehalten, aber allerdings mit einem Verständniß und einer Empfindung, die erst recht eigentlich die Intentionen des Meisters ans Licht setzte». Von ihr können unsre Künstler und Künstlerinnen lernen, wie man Mozart studiren muß, um die unzähligen kleinen Feinheiten heraustreten zu lassen. — Es gewährt uns beiläufig eine große Befriedigung, anführen zu können, daß schon in dieser Ausführung das gute Beispiel wohlthuend auf das Ganze wirkte, uud daß namentlich die wunderbar schone Rolle des Pagen, die sonst in der Regel von Anfängerinnen ohne alles Verständniß und Gefühl heruntergeleiert wird, von Frau Günther-Bachmann, einer Künstlerin, mit der in ihrem bescheidenen Fach- nicht viele wetteifern möchten, aus die befriedigendste Weise dargestellt wurde.
Die Rolle der Susanne möchte, als Ganzes aufgefaßt, der Individualität der berühmten Säugerin am meisten zusagen. Diese Mischung von feiner Coquetterie und heimlicher Sinnlichkeit, die sich doch in den edelsten Formen ausdrückt (wir sprechen natürlich von der Musik, nicht vom Text), ruft uns am meisten das Bild des jungen Mädchens, das vor zwanzig Jahren ganz Deutschland in einen halben Taumel versetzt hat, zurück. Für die Entwickelung ihres eigentlichen Talents dagegen bietet sie weniger Gelegenheit, und da dies doch auch eine Seite ist, die ihre Berechtigung hat,, so müssen wir die Zugabe der italienischen Opermusik schon hinnehmen.
Was bei Henriette Sontag zuerst auffällt, ist die vollständig gleichmäßige, schöne Ausbildung aller Töne, über die sie überhaupt disponiren kann. Bei den meisten Sängerinnen muß man sich erst an gewisse Eigenthümlichkeiten gewöhnen, die im Anfang verletzen; selbst bei Jenny Lind war ein Theil der Mitteltöne belegt. Bei Henriette Sontag ist ein Ton so rein, volltönend und anmuthig wie der andere.