2K7
Deutscher T r o st.
Nehmen wir einen traurigen Fall an. Ein Mann schläft in irgend einem heißen Lande, z. B. in Bengalen, nuter einem Palmbanm. Sofort kommt ein furchtbarer Löwe, packt den Schlafenden im Nachen und trägt ihn fort nach einer Felsschlucht, in das gemüthliche Stillleben der Löwenfamilie. Natürlich wird der unglückliche Gefangene sich fruchtlos zu befreien suchen, und zunächst daran denken. Da aber gerade in den größten Schauermomenten der menschliche Geist zuweilen mit einer merkwürdigen Freiheit die unbehagliche Situation übersieht, so ist sehr möglich, daß auch dem Gefangenen im Rachen des Löwen außer der Todesangst noch eine Kette von Nebenvorstellungen durch den Kopf läuft. Diese Nebenvorstelluugen, welche gleich Blitzen die grausige Nacht seiner Seele durchzucken, werden verschieden sein, je nachdem er ein Engländer, ein Franzose, oder ein Deutscher ist. Ist der Mann in kritischer Lage ein Engländer, so wird er sich noch schnell sagen: das muß die Regierung Ihrer Majestät, das muß Lord Palmerston erfahren, damit Alt-England an dem verdammten Löwen Rache nimmt, dnrch Noten, durch eine Flotte, durch Blokade, und Todtschießen. Ist er ein Franzose, so wird er dcukeu: Gemeiner Tod! Ich werde eine erbärmliche Situation haben, wenn ich sterbe; es ist gar kein Effect dabei möglich. Und ist der gefährdete Mann ein Deutscher, so ist es sehr wahrscheinlich, daß er sich mitten in seinem Kümmer sagen wird: Es ist nur ein Glück, daß das Beest kein Tiger ist, denn Tiger sind noch viel grausamer.
Reflexionen, wie die letzte, nennen unsre Nachbarn, die Franzosen, Engländer nud Russen, „deutschen Trost", und besonders die Franzosen verspotten uns deshalb. Es ist wahr, die Fähigkeit, jede bedenkliche Lage dadurch geuießbar zu machen, daß wir ihr eine noch schlimmere gegenüber stellen, hat uns eine gewisse Virtuosität im Ertragen von unangenehmen Dingen gegeben. Und bei Einzelnen, wie bei der ganzen Nation ist dies allerdings eine Tugeud von zweifelhaftem Werthe. Indeß mögen unsre lieben Nachbarn und Freunde jenseits des Rheins und unsre nicht weniger geliebten Nachbarn nnd Freunde im Osten von Deutschland uns noch verzeihen, wenn wir diese Methode, uns über Unaunehm- lichkeiten zu trösten, gerade jetzt anwenden, und indem wir nnsre Situation mit der ihrigen vergleichen, einen deutschen Trost darin finden, daß es bei uus zwar nicht gut, aber immerhin viel besser steht, als bei ihnen. Selbst unsre Vettern in England werden uus nicht züruen, wenn wir unsre Methode ihnen gegenüber nicht aufgeben, und so oft wir bedauern, nicht stark zu sein, wie England, uns auch freuen, daß wir kein Irland zu verantworten haben.
Der Deutsche war seit langer Zeit gewöhnt, seine Nachbarschaft im Osten als ein zwar sehr wohlwollendes und patriarchalisches, nichts desto weniger aber zuweilen
34*