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Zusammenbruch und Wiederaufstieg vor hundert Jahren : eine Bonner Rede : (Fortsetzung.) II.
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Der Rastatter Kongreß, auf dem alle diese dutzende und Hunderte deutscher Staatsziele und -zielchen durcheinanderwimmelten, gab den Fran- zoisen den Schliissel zur deutschen Festung in die Hand. Die deutsche Ge­samtsache war jedem dieser Staatsgebilde für ein bis 3V Silberlinge feil. Nichts konnte in dieses Chaos Ordnung bringen, als die geme-msame Strafe.

Das Neben- und Gegeneinander der österreichischen, preußischen, anhalt-köthMfchen, isenburg-birsteinWen usw. Staatsziele verhinderte voll­ständig das Entstehen eines dentschen Gesamtwillens. Was die Franzosen in der Zeit der Jungfrau von Orlüans, im hundertjährigen Krieg um chr Land, was die Briten im allmählichen Ausbau ihres Piratenstaates gelernt hatten: daß jeder lebendige Organismus die Funktion seiner Zellen "bis zu einem hohen Grade mechanisieren muß, um im Zentrum des Bewußtseins einen einheitlichen Willen zu bilden, das hatte um 1800 Deutschland noch nicht gelernt; es war weder organisatorisch noch geistig ein Lebewesen, bestenfalls eme Kolonie von Einzelzellen. Der Reichtum der Sonder­bildungen, der Kulturzentren und Originale wurde mit einer grotesken Hilflosigkeit in der großen Krisis bezahlt.

Seit der preußischen Neutralität von 1795 ließen sich die Deutschen in jedem Feldzug einzeln schlagen, seit dem Rheinbund 1806 halfen sie eifrig mit, Deutsche durch Deutsche zu besiegen. Bis 1795 wird der gemein­same Krieg schlaff, mit Seitenblicken und Mißtrauen gesührt. Seit 1805 zögern immer Oesterreich oder Preußen abwechselnd risikoscheu, bis die andere deutsche Großmacht allein über Napoleon einen Anfangserfolg errungen habe, um sich dann am Sieg zu beteiligen. Auf diese Weise erringt nur immer Napoleon fast risikolos die Teilsiege, die sich ihm zur Weltherrschast runden.

Bei den Gebildeten Deutschlands, bei den Denkern und Dichtern, denen alles Irdische sich zum Idealen wandelte, hatte sich die nationale Willen- losigkeit in weltbürgerliche Weitsicht, in Humaue Vorurteilslosigkeit ver­klärt. Das Nationale war dem gebildeten Dichter um 1805 eine geistige oder gefühlsmäßige, aber keine Willensangelegenheit.Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden; wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf", fo las man 1796 treffend in Goethes und Schillers Xenien. Auch die Gelehrten mußten, wie der Bürger und Bauer, dem der Hof rauchte, und das Hemd vom Leib gezogen wurde, erst durch die bittere Not lernen, daß die Lage Deutschlands auf dem Globus nichts mit der Insel der Phäaken gemein hatte. Ob nun aber der Mangel an Gesamtwillen als partikulare Parteisucht oder als edler Kosmopoli- trsmus erschien, ob dieses Fehlen eines Willenszentrums mehr die Züge philisterhafter Enge oder unpraktischer Verstiegenheit annahm, jedenfalls ergab sich eine falsche Psychologie auch in den einzelnen Maßnahmen der deutschien Staatsgebilde, ihrer Kriegsfiihrung wie Diplomatie, ihrer Finanzpolitik wie ihrer Verwaltung. Es giebt nichts in dichem welt­fremden Sinne Deutscheres als die klassische Anweisung, welche im Jahr 1803 die hannovevsche Regierung ihren Truppen gab, als eine schwache feindliche Kolonne die Neutralität Hannovers zu verletzen sich anschickte: Der Obevkoimmandierenlde möchte den Truppen nicht gestatten zu feuern und nur im dringendsten Notfall das Bajonett mit Moderation zu ge­brauchen."