Die Grenzboten
Politik, Literatur und Kunst
81. Jahrgang, 3. Juni 1922 Nummer 21
Zusammenbruch und Wiederaufstieg vor hundert Jahren.
Eine Bonner Rede. Von Fritz Kern. (Fortsetzung.) II.
Als das eigentliche Ziel seine« soziallen Reformen bezeichnet Stein selbst den Gedanken:
„Einen sittlichen, religiösen, vaterländischen Geist in der Nation zu heben, ihr wieder Mut, Selbstvertrauen, Bereitwilligkeit zu jedem Opfer sü>r die Nationalehre einzuflößen."
Als Mittel zu diesem Zweck, den Deutsche«, die noch keine Nation sind, den Weg zur Nation zu bahnen, empfindet auch Scharnhorst die liberal-demokratischen Einschläge seiner Heeresreform. Er schreibt darüber 1808:
„Man muß der Nation das Gefühl der Selbständigkeit einflößen, man muß ihr Gelegenheit geben, daß sie mit sich selbst bekannt wird, daß sie sich ihrer selbst annimmt; nur erst dann wird sie sich selbst achten und von anderen Achtung zu erzwingen wissen. Darauf hinzuarbeiten, dies ist alles, was wir können. Die Bande des Vorurteils lösen, die Wiedergeburt leiten, Pflegen, und sie in ihrem freien Wachstum nicht hemmen, weiter reicht unser hoher Wirkungskreis nicht."
Mit diesen Selbsturteilen der Reformer über das, was die Reform sein sollte und was sie nicht sein wollte, sind wir auf den richtigen Pfad gelangt. Diese nichtpreußischen deutschen Reformer Preußens kennen und fühlen die Krankheit, an der nicht das Preußentum, sondern das Deutschtum litt.
Es fehlte dem Deutschtum von 1792 gänzlich an einem gemeinschaftlichen Willen, ja auch nur an der Ueberzeugung, daß ein solcher nötig oder wünschenswert sei. Man kann drei Gruppen deutschler politischer Willenszentren unterscheiden. Die hundertfältig zerfetzte Kleinstaatenwelt war politisch saturiert, strebte jedenfalls über Kirchturmsbegehren nicht hinaus. Der zweite Komplex, die Habsburgische Monarchie, Erbin der alten Zentralgewalt, hegte noch gewisse Erinnerungen an einstige Gesamtve-rantwortung für Deutschland, doch nur im Absterben und überwachsen von national