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grob ausgetreten sei und das unmittelbare Ende der Entente verkündet habe, wenn Frankreich nicht klein beigäbc, war sogar in der „Times" zu lesen, einem Blatte, bei dem sich die Welt noch immer nicht ganz daran gewöhnt hat, daß es jetzt einen ganz anderen Charakter hat, als ihm vor einigen Menschenaltern noch eigen war. Gerade dieser Umstand hätte die Beurteiler stutzig machen können, da die grundsätzlich frankreichfreundliche und dnrch Rücksichten auf Wahrheit und Verantwortlichkeit wenig gehemmte Politik der „Times" bekannt genug war.
Es hat sich denn auch herausgestellt, daß zwar alle Schwierigkeiten, , von denen wir schon wiederholt an dieser Stelle gesprochen haben,' einstweilen noch ziemlich unverändert fortbestehen, daß aber niemand es auf sich nehmen will, die Konferenz vor der Zeit znm Scheitern zu bringen, nnd daß die meisten Mächte aus der Fortführung der Verhandlungen sogar allerlei Vorteile zu ziehen hoffen, — Frankreich durchaus uicht ausgenommen. Im Mittelpunkt der Verhandlungen, aus denen sich die so skizzierte Lage entwickelt hat, stand in den letzten acht Tagen das sogenannte „Russe» memorandnm", jenes Aktenstück, das der russischen Delegation die Forderungen der alliierten Mächte übermitteln sollte und dessen Beantwortung jetzt über das Schicksal der ganzen Konferenz entscheiden soll. Es war, um es noch einmal besonders hervorzuheben, der Hauptzweck des Memorcmdnms, den Russen die Wünsche und Bedingungen der Ententemächte zn Gemüte zu führen. Und nun erlebte man das Sonderbare, daß nach den ziemlich langwierigen und sehr schwierigen Beratungen, in denen Frankreich und England endlich eine gemeinsame Form sür ihre offenkundig weit anseinandergchenden Meinungen gefunden hatten, das kleine Belgien im letzten Augenblick die Unterschrift verweigerte und — das war die peinlichste Ueberraschnng! — Frankreich sich ihm anschloß!
Man fragt sich: weshalb hat Frankreich sich eigentlich an der Arbeit zur Fertigstellung des Memorandums, das ja doch von den ihm erwünschten Linien iu der Behandlung der Rnssenfrage von vornherein abwich, überhaupt beteiligt, wenn es sich im entscheidenden Augenblick doch zurückziehen wollte? Die Antwort ergibt sich Wohl aus der Betrachtung der Verhält- uissc, die nach französischer Auffassung der deutsch-russische Vertrag von Rapallo geschaffen hatte. Frankreich sah, daß es in eine Lage gebracht worden war, in der es bei allzu starrer Festhailtuug seines ursprünglich umschriebenen Standpunktes Rußland gegenüber ins Hintertreffen kommen mnßte. Darum zog es vor, sich zu einer gewissen formellen Anpassung an die andern alliierten Mächte und zu einem Mitarbeiten mit ihnen zn entschließen, damit dem Geist der französischen Politik der nötige Raum in der Behandlung der russischen Frage gewahrt bleibe, zugleich aber auch für alle möglichen künftigen Fälle die Fühlung mit Rußland nicht ganz verloren gehe. Man sah in Paris keine andere Möglichkeit. Da zeigte sich in Belgien die lebhafte Beunruhigung und der Unmnt der Kreise, die bei der starken Investierung von belgischem Kapital in Rußland schon seit der Vorkriegszeit die wirtschastlichen Fvagen in Osteuropa mit andern Augen anzusehen gewohnt waren. . Verstärkt wurden ihre Sorgen durch die Befürchtungen, daß England die Gunst der Umstände benutzen könnte oder — wie Gerüchte besagten — schon benutzt habe, um sich in Nußland in der Petroleumindnstrie, in den Manganerzen des Kaukasus und anderen Handelsartikeln besonder« Vorteile zu sichern. Wie weit diese Besorgnisse