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Zeit weitaus zahlreichere Stimmen sich geltend machen und bei der Verbreitung der Presse und der Leichtigkeit des Buchdrucks sich geltend machen können, es ist doch jedem, der aufmerksam in die Zeit hineinhört, klar, daß bei aller Verschiedenheit der Stimmen und bei allen bloß störenden Nebengeräuschen (die in unserer Vorstellung von der Vergangenheit nicht mitüberliefert sind) sich doch eine dominierende Stimmeneinheit herausheben wird.
Das wird besonders offenbar, wenn wir das geistige Leben von heute vergleiche« mit dem um 1900 herum. Tut man das, so kann man nicht abstreiten, daß alle Stimmen heute, so verschieden sie sonst sein mögen, in wesentlich anderer Tonart spielen. War damals in Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Religion, aber auch in der sozialen und Politischen Kultur ein m e ch a n i st is ch e r, u u p e r s ö n l i ch e r, p o s i ti v i st i - scher Geist vorherrschend, so geht durch alle Bestrebungen heute ein jenein entgegengesetzter Geist, der a n t im e ch a n i st i s ch, persönlicher, metaphysischer gefärbt ist. Herrschte bis um 1900 herum in der Kunst ein Naturalismus, der in der Beöbachtnng der Außenwelt wie des seelischen Lebens durchaus positivistisch, unpersönlich, metaphysikfrei war, so sind die neueren Bestrebungen, die man unter deM Schlagwort „Expressionismus" zusammenfaßt, einerlei wie man über ihren Wert denkt, sicherlich unpositivistisch, bis zum Absurden subjektiv, metaphysisch. In der Religion, die fast ganz zur positiven Wissenschaft geworden war, ruft man wieder nach dem persönlichen, metaphysischen Erlebnis, in der Wissenschaft tritt an Stelle des Mechanismus stärker und stärker der Vitalismus, ja man darf auch in der Wissenschaft wieder von metaphysischen Perspektiven reden. Die Philosophie besonders, die am Schluß des 19. Jahrhunderts sich bemüht hatte, jedem freien Flug zu entsagen und keinen Zoll sich über den festen Erdboden zn recken, versucht wieder himmelstürmende Systeme von oft höchst luftiger Bauart zu schaffen. Ja selbst im sozialen Leben und in der Politik wagt man wieder von „Ideen" zu sprechen und nicht bloß auf sogenannte Realitäten zu bauen. Kurz, überall regen sich Mächte einer freieren, kühneren, persönlicheren Wesensart. Mögen sich alle diese Bestrebungen ihres inneren Zusammenhangs oder ihrer gemeinsamen Verwurzelung in einer nenen, gewandelten Attitüde des Menschen znr Welt nicht bewußt sein, vielleicht ist gerade der Umstand, daß sie sich dessen nicht bewußt sind, daß auch keinerlei äußere „Einflüsse" sie zusammenfügen, am bezeichnendsten für eine tiefe innere Gemeinsamkeit, die in einer seelischen Wandlung wurzelt. Liest man z. B. ein Buch wie die wertrolle Uebersicht, die T. K.'Oesterreich unter dem Titel „Das Weltbild der Gegenwart" (E. S. Mittler u. Sohn, 1920) unternommen hat und die nnr Tatsachen zusammenstellt, ohne die Absicht hinter den Tatsachen die gemeinsame seelische Triebkraft zu enthüllen, so fällt auf, daß zum mindesten in dem scheinbar Negativen, der Abwendung gegen den um 1900 herum herrschenden bewußten Verzicht auf letzte große Synthesen eine tiefe Gemeinsamkeit besteht.
Besonders aber, wenn man die Philosophie der letzten Jahre verfolgt, tritt diese Wendung hervor. Philosophie ist ja an sich die synthetischste Form des menschlichen Denkens, und sie muß daher der feinste Barometer sein für alle Wandlungen der geistigen Atmosphäre. Und so besteht heute kein Zweifel mehr, daß an zahlreichen, voneinander kaum