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Nerven
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Maritimus

Nerven

Von Maritiinus Kaiserlicher Leutnant zur See a. D.

ü?ein Bursche, ein alter Seewehrmann, erzählt:

Wer weiß es, was es heißt, vier Jahre in enger Kasematte zu wohnen, vier Jahre mit dem Kopf an das Stahldeck zu stoßen, vier Jahre rechts und links und vorn und hinten immer wieder diese dunklen Wände, die kahlen quadratischen Spinde zu sehen? Neben sich immer und immer die gleichen Ge­sichter, den gleichen Zank ums Fressen, vier lange Jahre durch. Ja waren nicht viele von uns schon vor dem Kriege auf diesem Schiff? Lebten sie nun nicht schon sieben Jahre in derselben stickigen Luft, der mechanischen Arbeit, den ewig, gleichen Exerzierdiensten, ein Tag frei und ein Tag Wache, sieben Jahre lang durch? Waren wir überhaupt noch Menschen mit Seelen? Oder Maschinen mit mono­tonem Gang? Ein Perpetuum mobile I

Frisch fröhlicher Krieg? Nein!

Wir mußten hinaus in die Nordsee spähenden, wundgeschauten Auges Tage und Nächte. Nervenüberspannt, übernächtigt, ermüdet und erschlafft kehrten wir heim von nutzloser Fahrt, o wie drückte das beim hundertsten Male! Konnten wir nicht besser bei Muttern sitzen, bei Frau und Kind?

Und immer in denselben Hafen zurück. Die gleichen Menschen, die gleichen Mädchen, die gleichen Freuden und die diesige Luft. Die nie weichenden Nebel­schwaden und immer der rieselnde Regen und die Dämme und Deiche und Wiesen so kahl und so endlos, so furchtbar endlos und der Strandschlick voll üblen Geruchs und die Jade so träge und lehmgrau: eintönig das Bild unseres Lebens I

Krieg und Nerven I Ja, unsere Nerven wurden langsam mürbe. Mit unheimlich sicherem Instinkt konnten wir den Augenblick ermessen, wo ein Anstoß genügen würde, sie reißen zu lassen. Ein wildes Aufbäumen des Leibes, ein Aufschrei des Geistes, ein Aufpeitschen der Sinns, mutzte, es mußte Befreiung bringen. Wir waren ja keine Menschen mehr, lebten in dumpfer Ohnmacht dahin, siech am Körper und Geist. Auf jeden einzelnen Nacken drückten die taufende Zentner Stahl des Schiffes und leiser Kopfschmerz legte sein dauerndes eisernes Band um die Stirn und erdrückte neue Gedanken und meuchelte Spannkraft.

Wie mußte es schön sein, ach auch noch am Kriegsende, mit Tausenden zusammen an der Westfront oder Ostfront vorzustürmen. Nur vorwärts, nur vorwärts! Nur etwas Neues etwas Neues! Nur nicht aus dem Taumel erwachen, zum Denken kommen wie wir, die wir grübelnd mit ewig rotierenden Gedanken in dumpfer Starre dahinbrüteten.

Der leise werbende Ruf: Revolution! ließ unsere mürben Nerven reißen. Eine Tat! Erlösendes Wort! eine Tat! Welche?? Gleich! Nur eine Tat! Alle Instinkte brachen los, alles Gute und alles Schlechte, jahrelang verhaltene Kraft spannte sich zu dieser einen Tat! Revolution! Ein Aufschrei der Befreiung ging durch mich und viele meiner Kameraden:

Revolution der Nerven, das war mein Kriegserlebnis I"

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