Ingelheim
Ingelheim
Eine Rheinlandsage von Wilhelm Schäfer
^er große Karl lag spät noch wach in seiner neuen Pfalz am Rhein. Da kam der jüngste von den Knaben, die stets in seinem Vorsaal wachen mußten, mit seinem Leuchter still herein, trat vor sein Bett und sagte, während er die offenen Augen i.m tiefen Schlaf auf ihn gerichtet hielt: „Steh' auf zu stehlen!"
Das war dein Kaiser wunderlich, und weil er viel nach solchen Dingen horchte, sprach er den Knaben mit milder Stimme an, was er denn stehlen solle? Der aber schien nicht mehr zn wissen, ging wieder still im Schlaf hinaus, und als der Kaiser ihm rasch folgte, war in dem Vorsaal alles dunkel, und uur die Atemzüge seiner Knaben zeugten, daß sie lebten. Er ließ sie Ichlafen, nahm — durch den Vorgang sonderbar erregt — den Helm und seine Waffe und ging vor den Palast hinaus bis vor die Linde, die,im Burghofe an der Mauer grünte.
Da hörte er von fern den Rheinstrom rauschen; doch wie er in Gedanken an das Wort des Knaben sein Angesicht zum Himmel hob, daran die Wolken Silberränder hatten, indes er sich mit beiden Händen auf die Waffe stützte, wurde ihm der Helm sacht vom Kopf genommen, sodaß er kühlen Wind in seinen Haaren spürte; und als er mit den Händen danach grisf, fiel auch sein Schwert nicht ins Gehänge, schwand leise klirrend in der Nacht. Da merkte Kaiser Karl, daß Elbegast in den Ästen war und Helm und Waffe hinaufgeholt hatte, wo sie im Winde schaukelteu. Er hieß ihn unmutig herunterkommen, doch als der Zwerg sich auf die Mauer hockte wie eine Fledermaus, erzählte er sein seltsames Gesicht.
Der lachte gleich uud sagte: „So weiß ich auch, warum ich hier die halbe Nacht auf Euch gewartet habe, und weil Ihr weder Helm noch Waffe tragt, so seid Ihr schon bereit, zu, stehlen. Ich kenne Euch ein Bäucrlein, das hat am lichte» Markttag gut gehandelt."
Der Kaiser wehrte: „Nein, ich will kein Schelm am Landmann werden!"
„Es wird schwer sein, mit Gerechtigkeit zu stehlen; ich konnte Euch noch einen Schleichweg drübeu ins Kloster zeigen, wo heute Nacht der Häudler aus Navenua seine Edelsteine hat; aber weil Ihr auch beim Stehlen Kaiser bleiben wollt, müßt Ihr mir folgen znm Grafen Harderich, von dessen ungerechten Taten die Klage kam und den Ihr morgen in den Thing geladen habt."
Der Kaiser sah nachdenklich in das dunkle Land, iind während sein Auge in nicht zu weiter Ferne am stolzen Turm des Grafen haften blieb, gab er dem Elbegast ein Zeichen, voranzugehen. Der führte ihn durchs Pförtchen über einen Pfad, der unauffällig am Waldrand über dem weiten Nheintal hinlief und an der Burg des Grafen Harderich im Dickicht endigte. Da mußten sie zwischen
*) Mit freundlicher Erlaubnis des Verlages Georg Müller, München, den „Nhem- sagen" Wilhelm Schäfers entnommen.
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